Der Krieg in der Ukraine löst eine Renationalisierung aus. Deutsche Politiker sprechen plötzlich wieder auffällig oft vom „deutschen Volk“, sogar der „Nation“, wenigstens wenn es Solidarität mit der ukrainischen Nation zu zeigen gilt. Es ist irritierend, wenn Vertreter einer postheroischen und postnationalen politischen Klasse inbrünstige Bekenntnisse zum Freiheitskampf der Ukrainer abgeben, gleichzeitig aber keinen positiven historischen Begriff von der eigenen Gemeinschaft formulieren, die sich einst selbstverständlich als „deutsche Nation“ definierte.
Woraus ziehen wir Deutschen eigentlich unser Selbstbewußtsein? Und haben wir eine Ehre, die andere beleidigen können? Ist es überhaupt gut, daß sich die europäischen Völker in Nationen ihre Form gegeben haben? Oder war das ein einziger Weg in den Abgrund? Wenn die FDP-Verteidigungspolitikerin Agnes Strack-Zimmermann am Schluß einer öffentlichen Rede begeistert „Slawa Ukrajini!“ (Ruhm der Ukraine!) ausruft – wäre ein ähnlicher Ausruf auch in bezug auf die eigene Nation denkbar? Es ist Zeit, die „kollektive Neurotisierung“ zu überwinden und nicht andere noch damit anzustecken.
„Der Schaden für Deutschland ist niemals so groß, wie der Schaden den eine von 🇷🇺 annektierte 🇺🇦 für unsere europäischen Werte bedeutet.“ @MAStrackZi Stabil. 🙏💙💛#BPT22 pic.twitter.com/tAxYkvYbU2
— Kristina Faßler (@KristinaFassler) April 23, 2022
Deutsche stehen unter Nationalismusverdacht
Bei der Ukraine wohnen wir der beeindruckenden „zweiten Geburt einer Nation“ bei. Zugleich müssen wir in Osteuropa die geschichtspolitische Ambivalenz verstehen, die eine teilweise wechselnde deutsche und sowjetrussische Besatzung im Zweiten Weltkrieg bedeutete. Ob im Baltikum, Polen, Tschechien oder eben der Ukraine: Hier wird eben mit der Eroberung durch die Rote Armee kaum der Begriff der „Befreiung“ verbunden, auf den hierzulande die Sicht zunehmend verengt wird.
Ein vom Bund finanziertes neues gigantisches Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ in der Mitte Berlins, dessen Bau mindestens 120 Millionen Euro verschlingt, soll jetzt die völlig eindimensionale Beschäftigung mit unserer Vergangenheit zementieren. Hier sehen wir eine auf „kollektive Neurotisierung“ (Thorsten Hinz) hinauslaufende Reduzierung deutscher Geschichte, die monströse deutsche Verbrechen zum Identitätskern und hypermoralischer Begründung erhebt, weshalb es richtig sein solle, unsere Nation (und alle anderen?) in „Europa“ aufzulösen.
Wer in Deutschland neben notwendiger Erinnerung an Schande auch positive Identifikationspunkte setzen will, steht unter Nationalismusverdacht. Ob Straßennamen mit Kriegerhelden des Ersten Weltkrieges oder wiederaufgebautes Stadtschloß – alles muß schnellstmöglich dekonstruiert und antikolonialistisch gebrochen werden. Es ist Zeit, diese Neurose endlich zu überwinden und nicht andere auch noch damit anzustecken.
JF 20/22