Die Demokraten in den USA stehen kurz vor einem wichtigen Ziel: Raphael Warnock hat nach Auszählung der Stimmen bei der Stichwahl um die zwei Senatorensitze im Bundesstaat Georgia gegen die Republikanerin Kelly Loeffler einen Sitz gewonnen. Damit steht es im Senat in Washington 50 zu 49 für die Republikaner.
Wenn es den Demokraten gelingt, auch den zweiten Senatorensitz in Georgia zu erobern, dann haben sie numerisch die Mehrheit im Kongreß. Denn bei einem Patt im Senat entscheidet der Vizepräsident, in diesem Fall die Vizepräsidentin Kamela Harris. Damit hätten sie das Ziel theoretisch erreicht, mindestens zwei Jahre durchregieren und viele Gesetze und Verordnungen der Ära Trump rückgängig machen zu können.
Aber eben nur theoretisch. In der Praxis sieht die Lage oft anders aus. Da entscheidet nicht die Partei, sondern die Sache und Warnock, der mutmaßliche Gewinner des ersten Sitzes, hat bereits gesagt, daß er für alle Wähler in Georgia, egal von welcher Partei, in Washington arbeiten und entscheiden werde.
Unter Umständen muß in Georgia nachgezählt werden
In Deutschland kennt man das von Entscheidungen im Bundesrat, wo gelegentlich auch die Interessen des Landes höher bewertet werden als die der Partei und vor allem der Ideologen in den Parteien. Außerdem bedarf es im US-Senat bei vielen Sachentscheidungen einer 60-Prozent-Mehrheit, so daß die Republikaner etliche Vorhaben blockieren können. Nicht blockieren können sie jedoch Personalentscheidungen für hohe Ämter, da dürfte Biden freie Hand haben.
Zunächst heißt es abwarten. Bei einem knappen Ausgang der Wahl, also bei einem Vorsprung von weniger als 0,5 Prozent der Stimmen, muß in Georgia nachgezählt werden. Außerdem sind viele tausend Stimmen von Briefwählern noch nicht ausgezählt. Das Endergebnis wird erst in einigen Tagen, vielleicht sogar erst in einer Woche vorliegen.
Denn beim zweiten Rennen zwischen dem Republikaner David Perdue und dem Demokraten Jon Ossof liegt die Marge unter 0,5 Prozent. Nach der doppelten Auszählung werden dann die Gerichte angerufen, um sicher zu stellen, daß bei Wahl und Auszählung alles mit rechten Dingen zuging.
Republikaner rufen Gerichte ohne echte Beweise an
Die Gerichte haben in den USA in der öffentlichen Wahrnehmung einen höheren Stellenwert als in Deutschland und Europa. Hierzulande wird zwar gern mit der Rechtsstaatlichkeit argumentiert, vor allem gegenüber Polen und Ungarn, aber bei näherem Hinsehen stellen sich doch Fragen nach der Unabhängigkeit der Justiz, etwa wenn man bedenkt, daß es die Parteien sind, die ihre Leute nach Karlsruhe schicken. Oder wenn das Justizministerium weisungsbefugt ist gegenüber den Staatsanwälten.
Allerdings müssen die Republikaner sich fragen, ob es angesichts des hohen Stellenwerts einer unabhängigen Justiz so klug war, Dutzende Beschwerden und Klagen über Wahlbetrug einzureichen, ohne über ausreichende Beweise zu verfügen. Selbst der mit sechs von neun Richtern konservativ besetzte Supreme Court wies die an ihn gerichteten Klagen ab. Auch das aufgezeichnete Gespräch des noch amtierenden Präsidenten Donald Trump mit dem Wahlkampfleiter in Georgia dürfte einige republikanische Wähler verunsichert, vielleicht sogar vom Urnengang abgehalten und auf jeden Fall demokratische Wähler mobilisiert haben.
Der worst case für die Republikaner, das Patt im Senat, wäre aber noch nicht das Ende der Welt, siehe oben. Sollten die Demokraten bei einem Sieg in Georgia der Versuchung erliegen, demnächst neue Richter im Supreme Court installieren zu wollen, dürfte das bei den künftigen Wahlen auf sie zurückschlagen – der ideologische Impetus wäre zu durchsichtig. Ohne neue Richter aber kann die Regierung Biden/Harris die Abtreibungsgesetze nur wenig verändern und das ist eines der prioritären Vorhaben der Demokraten. Und einige demokratische Senatoren dürften sich dem auch schon wegen der eigenen Wiederwahl in den Weg stellen.
Biden wird auf Geschlossenheit setzen
Überhaupt bekommen einzelne Senatoren, etwa der Demokrat Joe Manchin aus West-Virginia, eine ungeahnte Machtstellung. Manchin hat ebenfalls schon angekündigt, daß er nicht alles mittragen könne, was der linke Flügel seiner Partei ausgeheckt habe. Es gibt auch Wichtigeres zu tun: Der Kampf gegen die Pandemie und für den Wiederaufbau der Wirtschaft sowie die Abwehr der chinesischen Offensiven bei Handel, Sicherheit und Innovationen wird in diesem und auch im nächsten Jahr alle Kräfte beanspruchen.
Mehr denn je in der jüngeren Geschichte der USA wird es auf Entschlossenheit und Geschlossenheit ankommen. Das wird Biden am 20. Januar bei seiner Vereidigung auch verkünden. In diesem Sinn wird er sich auf Corona, die Klimapolitik und die Gesundheitspolitik konzentrieren.
„Amerika ist eine Ideologie“
Insgeheim dürfte er über das Ergebnis von Georgia – mit oder ohne Patt – ganz zufrieden sein. Es erlaubt ihm, den ideologischen linken Flügel in Schach zu halten. Die Ideologen, auch und gerade hierzulande, werden freilich betonen, wie tief Amerika nun gespalten ist. Aber man kann das auch anders sehen: Spaltung und Dissens sind das Salz in der Suppe der Demokratie. Gewinner ist, wer eine Mehrheit hinter sich bringt, und sei es auch nur mit einer Stimme – siehe die erste Wahl Adenauers.
Wer dagegen Dissens bis zur Spaltung beklagt, sollte sich fragen, ob er das Wesen der Demokratie verstanden hat und ob er nicht dem Wunschtraum erliegt, der zum Beispiel in den öffentlich-rechtlichen Anstalten Wirklichkeit ist, wonach alle gleich denken sollen. Solche Gleichschaltung atmet den Hauch des Totalitären. Und davon ist Amerika mit seinem weit verästelten System der checks and balances doch weit entfernt.
Vielleicht begreifen die Europäer einmal, was der Geopolitiker Karl Haushofer meinte, als er sagte: „Amerika hat keine Ideologie, es ist selber eine.“