In diesen Tagen erschienen viele Artikel und Traktate, die die Wogen zu erklären versuchen, auf der die Grünen politisch zur Zeit surfen. Manche wie der Publizist Frank Biess brachten das in einen Zusammenhang mit der AfD, indem sie beiden Parteien bescheinigten, Ängste zu nutzen, um sich politisch Gewicht zu verschaffen. Deshalb bauten sie sich auch beide als politische Gegenpole auf. Nicht von der Hand zu weisen ist, daß beide sehr emotional Ängste ansprechen: Urängste, in denen es um den Fortbestand der eigenen Leute oder gleich der ganzen Welt geht. Übersteigert wirkt es bei beiden.
Dennoch haben die Grünen eine Leichtfüßigkeit im Umgang damit, die der AfD abgeht. Das resultiert wohl daraus, daß die Grünen als Milieu einen begehrenswerten, recht hedonistischen Lebensstil beschreiben, dem man wohl mit entsprechender Bildung und entsprechendem Portemonnaie frönen kann und will: jung, urban und ungebunden ausleben oder mit grünaktuellen Statussymbolen umgeben, vom Einkaufsbeutel aus Stoff über die Bio-Lebensmittel bis hin zu Lastenfahrrädern, von Zeit-Reporter Henning Sußebach als Bionade-Biedermeier beschrieben. Es hat etwas vom Paradies auf Erden, das die Grünen eröffnen wollen. Vielleicht nicht jedem. Sehr wahrscheinlich nicht jedem. Aber es reicht für die Phantasie von rund 20 Prozent der Wähler.
Sind die Grünen also jetzt auf dem Gipfel des Zeitgeistes und damit die neue Volkspartei im linken Spektrum? Ja, das kann sein. Zumal die Linkspartei und die SPD im Grunddilemma eines national finanzierten Sozialstaates, der bei offenen Grenzen auseinanderfliegt, auf Grund gelaufen sind. Und die CDU hat es über Jahrzehnte hinweg unterlassen, ihre Politik ausreichend emotional und rational zu fundieren. Konservativ sein ist ja im wesentlichen die kulturelle Resilienz, nur das zu ändern, was unbedingt geändert werden muß.
Wir leben in der gefühlten Dauerapokalypse
Da warfen sich im 19. Jahrhundert die Liberalen nach der Aufklärung für Demokratie und Bürgerrechte in die Schlacht. Im 20. Jahrhundert kämpften die Sozialisten um eine sozialstaatliche Ausrichtung in der Gesellschaft, nachdem der Kapitalismus sich Bahn gebrochen hatte.
Und nun, im 21. Jahrhundert ist die Frage, wie die Umwelt bewahren, wenn individuell ausgelebter Kapitalismus Gesellschaft und Umwelt verheeren. Neu ist keine dieser Fragen. Die Bewahrung der Schöpfung, der Mensch als Individuum und das Erbarmen für die Armen sind seit 2.000 Jahren zumindest bei Christen Dauerthema. Basierten liberale und soziale Ideen noch auf der Wut persönlich empfundener Ungerechtigkeit, sieht das bei den Grünen anders aus: diese Gesellschaftsidee beschwört eine Kette an allgemeinen Ängsten herauf, in denen der Mensch sich selbst bedroht: saurer Regen und Waldsterben, Kernspaltung und Verstrahlung, Gentechnik und ungesundes Essen, Friedensbewegung und Nato-Doppelbeschluß, Klimawandel und steigender Meeresspiegel – wir leben in der gefühlten Dauerapokalypse. Wir haben mit dem Feind in uns selbst zu kämpfen. Und dabei sind die Grünen nach vielfältiger Eigenaussage die Guten.
Da Emotionen fast immer stärker in den Bann ziehen als rationale Argumente und sich hier diese Emotionen auch noch mit empfundenen Glaubensgewohnheiten vereinen, kann man auch plötzlich Kinder zu Propheten erheben. Was haben wir, wenn Kinder weniger kindlich wirken als Politiker? Zumindest eine unreife Politik – oder eine, die sich nicht abmühen möchte, ihre politischen Ziele und Aktivitäten erläutern und mit der Bevölkerung abstimmen zu müssen. In der DDR nannte man das „Einsicht in die Notwendigkeit“. Debatten wurden damit sehr schnell abgewürgt. Heute sind es „alternativlose Sachzwänge“ oder herannahende Katastrophen.
Die Angst der Grünen, auf der falschen Seite zu stehen
Doch bei den Grünen geht es vielleicht um mehr: Sie pfeifen vielleicht so laut im Walde, weil sie sich selbst sehr fürchten. Nein, nicht die Angst vor Wetterkapriolen und steigendem Meeresspiegel, da kann man ja noch rational eine Annäherung zumindest theoretisch herstellen. Es gibt offenbar eine tiefsitzende moralische Angst, man könne auf der falschen Seite stehen, man könne sich irren, man könne vielleicht doch nicht gänzlich ohne Fehl und Tadel sein, man könne und – das ist wohl das tiefste Trauma – von der Gesellschaft wieder verstoßen werden. Und wer nicht mit sich selbst im reinen ist, der sucht die Reinheit vielleicht draußen, im Leben, bei den anderen. Das wäre dann sozusagen ein moralischer Putzfimmel.
Es liegt viel Religiosität darin, sich auf einer Mission zu wähnen, für die man scheinbar auserwählt wurde und die nicht in Frage gestellt werden darf. Viele machen den von den Grünen angebotenen öffentlichen Ablaßhandel mit, indem sie beim Einkauf, bei der Kleidung und der Fortbewegung zeigen, daß sie laut Zeitgeist gute Menschen sind. Es ist kein Geheimnis, daß die Klientel der Grünen im Durchschnitt auch materiell in der Lage ist, diesen Weg zu gehen. Und es ist auffällig, wie oft die Grünen betonen, daß es nur ihren Weg gäbe, mit der Dauerapokalypse umzugehen. Egal ob Romantik, Rigorosität oder Rebellionstradition – solange der relative Wohlstand Deutschlands noch anhält, müssen wir damit rechnen, daß die Grünen mit ihrer moralischen Komfortoptimierung in der Gesellschaft durchkommen. Sie machen ein verlockendes Angebot.
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Antje Hermenau war von 1990 bis 2014 Landtags- sowie Bundestagsabgeordnete für die Grünen und trat 2015 nach 25 Jahren aus der Partei aus. Sie ist als Beraterin und Beauftragte im Landeswirtschaftssenat Sachsen tätig.
JF 20/19