Schlapphüte sind nicht für Offenherzigkeit bekannt. Wenn daher 19 Geheimdienst-Veteranen aus den USA, meist ehemals hoch angesiedelte Mitarbeiter des CIA, des FBI und verschiedener Ministerien, Offiziere der Armee und Diplomaten, sich zum zweiten Mal mit einem offenen – inhaltlich sogar sehr offenen – Brief an die deutsche Bundeskanzlerin wenden, dann nicht aus Übermut.
Hinter der Aktion steht eine Gruppe, die sich VIPS nennt – Veteran Intelligence Professionals for Sanity oder, auf Deutsch, altgediente Geheimdienst-Profis für Vernunft. VIPS wurde 2003 gegründet, damals in Reaktion auf den mit bewußten Falschinformationen motivierten Einmarsch im Irak.
Bereits vor dem Nato-Gipfel im September 2014 im englischen Cardiff hatten die VIPS einen Aufruf an Angela Merkel gerichtet und die Kanzlerin davor gewarnt, übertriebenen Aussagen über die russische Truppenpräsenz in der Ostukraine und die russische Unterstützung der Aufständischen Glauben zu schenken.
Obama und die Cowboys
Anlaß für den erneuten Brief, der Mitte dieser Woche veröffentlicht wurde, sind Ankündigungen einer schärferen militärischen Gangart Rußland gegenüber. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte vor wenigen Tagen gesagt, das Bündnis werde die „Militärpräsenz im Osten weiter ausbauen“ und die „größte Verstärkung seit dem Kalten Krieg“ beschließen.
Ganz besonders besorgt die Unterzeichner der Mangel an Autorität, die US-Präsident Barack Obama bei den Top-US- und Nato-Generälen genieße – von denen „einige gerne Cowboy spielen“. Die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Zusammenstoßes mit Rußland, versehentlich oder absichtlich, sei deutlich gestiegen. Die Verfasser appellieren an die deutsche Kanzlerin, sich mit Blick auf das Ausmaß der angeblichen Bedrohung mit einem hohen Grad an „umsichtiger Skepsis“ zu wappnen.
Die Autoren warnen auch davor, ukrainischen Scharfmachern wie dem Nationalisten Andrij Parubij, seit April in Kiew Parlamentschef, auf den Leim zu gehen. Parubij hatte zu Wochenbeginn gesagt, er sei schon immer gegen die Minsker Vereinbarungen gewesen. Die Moskauer Pläne in der Ukraine könnten „nur mit Gewalt und internationalen Sanktionen“ gestoppt werden.
Kritik an der Ukraine
Statt in Kriegsgeschrei zu verfallen, sollten die Nato-Politiker „eine ernsthafte Diskussion über die Kiewer Aufsässigkeit bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen führen“. Nach einer solchen Diskussion bräuchte sich der Westen dann auch nicht mehr in Bausch und Bogen mit der Liste realer und eingebildeter ukrainischer Klagen in Richtung Moskau zu identifizieren.
Der VIPS-Lenkungsausschuß, dessen 19 Mitglieder den Brief unterzeichnet haben, beruft sich auf E-Mails des vor zwei Monaten abgelösten Nato-Oberbefehlshabers Philip Breedlove. Noch 2015 habe der General mit weit übertriebenen Zahlen zu russischen Waffensystemen in der Ostukraine operiert. VIPS wirft Breedlove auch vor, die Politik des US-Präsidenten hintertrieben und auf ein militärisches Eingreifen der NATO in der Ukraine hingewirkt zu haben. Einer seiner US-Korrespondenzpartner habe ihm wörtlich geantwortet: „Angesichts der Obama-Instruktion, keinen Krieg anzufangen, haben Sie sich ja einiges vorgenommen.“
Der US-Botschafter bei der Nato, Douglas Lute, angekündigt, eines der Schlüsselthemen bei der Warschauer Konferenz sei die „Peripherie“. Das Bündnis sei nicht verpflichtet, Staaten jenseits des Nato-Territoriums zu verteidigen, aber es liege in seinem Interesse, diese Staaten so weit wie möglich zu stabilisieren. Moskau, so die Briefautoren, könne diesem Satz nur die Botschaft entnehmen, daß die Nato weiter auf eine „Stabilisierung“ der Ukraine im westlichen Sinn hinarbeiten werde.
Realpolitik statt Säbelrasseln
Die erfahrenen Geheimdienstler stoßen sich zudem am Unvermögen der jüngeren Generation, die Reaktion der russischen Seite zu antizipieren. Man könne doch nicht glauben, der russische Präsident nähme die Aufrüstung an seiner Grenze ohne Gegenmaßnahmen hin. Die seien so sicher wie das Amen in der Kirche, und zwar „zu einem Zeitpunkt und an einem Ort seiner Wahl“.
Jetzt komme es darauf an, daß erfahrene Nato-Politiker es schafften, die Allianz nicht auf Säbelrasseln, sondern auf Realpolitik einzuschwören. Anderenfalls werde eine militärische Konfrontation mit Rußland immer wahrscheinlicher – mit allen Risiken einer nuklearen Eskalation. „Extrem beunruhigend“ sei, daß die mittlere Generation sich diese Perspektive entweder nicht mehr vorstellen könne oder leichtfertig vom Tisch wische. Ausdrücklich danken die Verfasser dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier für seine Äußerung, militärisches Gehabe an der russischen Grenze sei der regionalen Sicherheit nur abträglich.
Die deutsche Bundeskanzlerin wird für ihr „resolutes Nein“ zur Forderung nach Waffenlieferung an die ukrainische Regierungsarmee gelobt. So unvollkommen der seither geltende Waffenstillstand auch sei, einer Eskalation der Kämpfe, die im Falle von Waffenlieferungen unausweichlich gewesen wäre, sei er allemal vorzuziehen.