Hoppla, was ist denn da mit Wolfgang Thierse geschehen? Eben marschierte er noch an der Spitze des linken Zeitgeistes, gab den glühenden „gegen Rechts“-Aktivisten und Schirmherrn der Amadeu-Antonio-Stiftung, ließ sogar als ergrauter Bundestagsvizepräsident noch den jugendlichen Revoluzzer heraushängen, als er sich für eine Demo-Blockade auf die Straße setzte – und veröffentlicht jetzt auf einmal als 77jähriger Polit-Pensionär einen nachdenklich-abwägenden Essay, in dem er mit den Identitäts-Ideologen, Gender-Fanatikern und Minderheiten-Militanten ins Gericht geht, die aus der einst ehrwürdigen Sozialdemokratie eine verbohrte Sekte gemacht haben.
Besser spät als nie, möchte man spontan meinen. Der übergroße Rest seiner Partei, der SPD, zeigt, wie weit sie sich von ihren Ursprüngen als Partei der aufstiegswilligen „kleinen Leute“ mit dem tiefsitzenden Bedürfnis nach Erdung, Sicherheit und der Perspektive auf ein besseres Leben für sich und ihre Kinder entfernt hat.
Thierses Einsicht kommt zu spät
Wenn da nicht dieser schale Beigeschmack wäre. Wie so vielen, die ihre Karriere auf die flott-progressive Unterminierung der bürgerlichen Wertewelt der alten Bundesrepublik gegründet haben, dämmert auch Thierse diese Erkenntnis erst in dem Moment, da er kein Amt und faktisch nichts mehr zu melden hat. Die Geister, die er selbst mit gerufen hat, lassen ihn unbarmherzig spüren, daß sie ihn nicht mehr brauchen. Für sie ist er eben auch nur ein „weißer Mann“, ein alter noch dazu. Sie stoßen ihn zurück in die Masse der belächelten Normalos, auf deren Kosten man gerne lebt und sich profiliert und die man gerade deshalb verachtet.
So hatte Wolfgang Thierse sich das nicht gedacht. Klar wollte er links und progressiv sein, als das schnellen Beifall brachte; aber doch nicht, um die vorgefundene behäbige Wohlstandswelt zu zerstören, sondern um selbst an privilegierter Stelle ihre Segnungen zu genießen. Spät hat er gemerkt, daß sich selbst den Ast absägt, wer Heimat, Patriotismus und Nation diskreditiert und verächtlich macht. Zu spät, um den totalitären Furor der aufklärungsfeindlichen Identitäts-Ideologen noch zu bremsen, denen er selbst die Tür mit aufgemacht hat. Das macht ihn zur tragisch-traurigen Symbolfigur des Elends der zur Sekte mutierten Sozialdemokratie, die sich aus eigener Kraft nicht mehr aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien kann.