338 zu 320 Stimmen: So knapp fiel die Entscheidung zugunsten Berlins als Sitz von Bundestag und Bundesregierung aus. Der 20. Juni 1991 kannte nur diesen einen Tagesordnungspunkt, fast zwölf Stunden lang dauerte die Debatte im ehemaligen Bonner Wasserwerk. Der aufgehobene Fraktionszwang ermöglichte ein facettenreiches Bild. Daß die CDU sich mehrheitlich für Berlin entschied (146:126), war nicht zuletzt auf Fürsprecher wie Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble oder Richard von Weizsäcker zurückzuführen; die Schwesterpartei CSU stimmte dagegen als einzige Partei eindeutig für Bonn (8:40).
Die Union als Ganzes bevorzugte demnach – trotz aller „sanften Empfehlungen“ der Parteispitze – den Verbleib am Rhein. Ganz ähnlich forcierte die SPD-Führung mit Willy Brandt und Hans Jochen-Vogel den Umzug an die Spree, während eine Mehrheit der Sozialdemokraten der Beethovenstadt treu blieb (110:126). Der vielleicht unbekannteste historische Fakt zuerst: Daß Berlin heute Regierungssitz der Bundesrepublik ist, ist parteigeschichtlich ein Verdienst von Abgeordneten der FDP (53:26) und PDS (17:1).
Die damalige Anspannung ist heute nahezu vergessen. Bonn hatte es schon bei seiner Wahl zum provisorischen Regierungssitz nicht leicht, das Abstimmungsergebnis Bonn kontra Frankfurt (33:29) war nicht weniger knapp als das für Berlin rund 40 Jahre später. Der Spiegel brachte die Stimmung so auf den Punkt: „Für Berlin läßt sich laut trommeln und werben, für Bonn nicht.“
Spott für Bonn
Schon damals fiel der übermäßige Spott gegen das „kleine, katholische Beamtenstädtchen mit beigefügter Universität und angebautem Regierungsviertel“ auf, indes jede Kritik an Berlin als Majestätsbeleidigung galt: „Gegen Bonn zu sein ist chic, gegen Berlin unpatriotisch, unhistorisch und gemein.“
Das bestechende Sachargument für Bonn, nämlich die gerade erst beschlossene Vergrößerung, Erweiterung und Modernisierung des Regierungsviertels – die Sitzung fand im Wasserwerk statt, weil der neue Plenarsaal erst 1992 bezugsbereit war – spielte im Pathos keine Rolle mehr, sondern machte Platz für noch monumentalere Bauphantasien in Berlin. Kein Opfer zu groß, wenn es der Sache dienlich war, ohne Rücksicht auf Kosten oder Planungen: die Bonner Republik hatte bereits der Berliner Geist angesteckt, bevor die Entscheidung gefallen war.
Ähnlich sah es mit der konstatierten Gefahr einer Zentralisierung des Föderalstaates aus. Staaten mit föderaler Grundordnung tendieren zur Auslagerung des politischen Bereiches – Beispiele dafür sind die Schweiz, die Niederlande oder die USA, in der die Regierung ganz bewußt nicht in der größten Stadt residiert. Konrad Adenauers Unterstützung für Bonn resultierte nicht zuletzt aus der Sorge, das traditionell „rote“ Frankfurt könne auch auf die Bundesregierung abfärben.
Berliner Gomorrha
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Überspitzt: Wer zu lange dem Berliner Gomorrha ausgesetzt ist, akzeptiert irgendwann die Zustände in Gomorrha als Normalität. Der Historiker und Kohl-Berater Michael Stürmer hatte Zweifel an Berlin, ähnlich wie der Bismarck-Biograph Lothar Gall, der einen „Zentralisierungsprozeß“ befürchtete. Auch solche Gedanken galten in der Einigungseuphorie als kleingeistig. Berlinkritische Ministerpräsidenten – wie Johannes Rau oder Walter Wallmann – verstummten jäh, als die Parteiführung die Richtung vorgab. Antipreußische Polemiken hin oder her: in der Hauptstadtfrage wurde Deutschland neuerlich von oben geeint.
Daß immerhin 15 von 39 sächsischen Abgeordneten für den Verbleib in Bonn stimmten, veranschaulicht nicht nur, daß die Abstimmung keine Auseinandersetzung zwischen Ost und West war, oder daß allein eine genuin bundesrepublikanische Identität „Bonn-Gefühle“ erweckt hätte. Auch in Thüringen gab es eine starke Minderheit für Bonn: 6 von 17 Abgeordneten gaben einem für sie unbekannten „westdeutschen Provisorium“ gegenüber der Hauptstadt der DDR den Vorzug.
Ein solches Abstimmungsverhalten ist kaum mit dem Topos erklärbar, bei den Bonn-Anhängern hätte es sich vornehmlich um ahistorisch denkende Westdeutsche gehandelt, die es sich am Rhein gemütlich gemacht hätten und vor der Rückkehr eines großdeutschen Militarismus warnten. Die mißlungene Apologie Bonns durch Norbert Blüm oder die überstrapazierten Mahnungen eines Günter Grass vor der deutschen Einheit erleichterten jedoch die zeitgenössische wie spätere Beurteilung der möglichen Verhinderung Berlins als Versuch gärtnerkonservativer Befindlichkeiten oder gleich als Antipathie gegenüber der deutschen Wiedervereinigung.
„Vollendung der Einheit Deutschlands“
Daß eine Verhinderung Berlins unterschwellig als Absage an die Wiedervereinigung als Ganzes interpretiert wurde, macht nicht zuletzt der Antrag der Berlin-Befürworter deutlich, der nicht etwa die Frage des Regierungssitzes, sondern die „Vollendung der Einheit Deutschlands“ zum Titel des Papiers machte.
Keine Frage: über Jahrzehnte hatte die deutsche Politik im Fall der Einheit die Rückkehr nach Berlin bekräftigt. Daran rüttelte auch die nachhaltige geografische Veränderung nichts, die Berlin von seiner zentralen Position im ehemaligen Reich in eine abgelegene Position gerückt hatte – bis heute von den restlichen urbanen Zentren Deutschlands entfernt und damit immer der Illusion verfallen, die einzige große und bedeutende Stadt zu sein, die notgedrungen Zentrum sein müßte.
Viel wichtiger fiel die „historische“ Bedeutung aus: Berlin als historischer Sitz des Reichstags, Berlin als historische Hauptstadt des Deutschen Reiches, Berlin als Schicksalsstadt Deutschlands per se. Nicht nur Ort, sondern auch Gebäude wurden überhöht, die Rückkehr in den Reichstag galt als verheißungsvolle Erfüllung deutscher parlamentarischer Geschichte – und das, obwohl das Gebäude schon damals entkernt war und auch die Umbaupläne wenig von dem Original übrigließen, als vielmehr eine neudeutsche Version lieferten, die nicht der Historie, sondern dem Zeitgeschmack Genüge tat.
Entscheidung für den Nationalstaat
Mit derselben Gewißheit hätte man von der Rekonstruktion einer deutschen Innenstadt träumen können, nur, um in diese anschließend dieselben Discounterläden, Handygeschäfte und 1-Euro-Shops einziehen zu lassen, wie sie auch die häßlichen Nachkriegsbauten der Weststädte schmückten – und darauf zu bestehen, es handele sich um historische Kontinuität oder gar um einen historischen Geist, der hinter den bloßen Fassaden wehe. Eine Mentalität, die später auch das Stadtschloß heimsuchte. Dem schlagenden Geschichtsargument hat dies bis heute keinen Abbruch getan.
Vergessen sind dafür die historischen Bewertungen der 50er Jahre, die in Bonn nicht ein Exil, sondern eine „Rückkehr“ an den Rhein sahen – dem eigentlichen deutschen „Kernland“ (Eugen Ewig). Nicht Preußen, sondern das Mittelalter war die Geburtsstätte Deutschlands: ob Merowinger, Franken, Salier oder Staufer, der Schwerpunkt der Reichsgeschichte konzentrierte sich über Jahrhunderte auf den südlichen und westlichen Teil Deutschlands.
Selbst für die sächsischen Ottonen endete die Welt an der Elbe. Berlin war dagegen in der „Streusandbüchse“ des Heiligen Römischen Reiches höchstens Nebenschauplatz. Der Historiker Eugen Ewig, führender Kopf eines solchen abendländisch-deutschen Verständnisses, gab dementsprechend sein Bundesverdienstkreuz im Jahr 1991 zurück.
Folgerichtig war die Entscheidung für Berlin eine Entscheidung für den Nationalstaat von 1871. Das erscheint aus gegenwärtiger Perspektive als Zustimmung zur historischen Kontinuität. Es war allerdings zugleich eine Absage an die eigentlichen Wurzeln deutscher Kultur, die bedeutend älter und fortlebender sind als das kurzlebige Zweite Reich oder gar Weimar.