Seit plötzlich ungewöhnlich viele Migranten aus dem Nahen Osten und aus Afrika illegal über die Grenze zwischen Weißrußland und Litauen strömen, ist offensichtlich, daß der Machthaber in Minsk, Alexander Lukaschenko, „Migration als Waffe“ einsetzt, wie es jüngst die litauische Innenministerin Agne Bilotaite nannte. Die Absicht des international weitgehend isolierten autoritären Herrschers sei es, ihr Land zu destabilisieren, beschwerte sich die Politikerin aus dem baltischen EU-Mitgliedsland. Lukaschenkos Vorgehens erinnert an das des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der vor einem Jahr auf ganz ähnliche Weise ausreisewillige Migranten sogar mit Bussen an die Grenze zu Griechenland bringen ließ – in der klaren Absicht, so politischen Druck auf die EU auszuüben.
Neu ist die Methode freilich nicht. Angewandt hat sie auch schon einmal ein Regime in Deutschland. Ziemlich effektiv und mit deutlich spürbaren Folgen – für einen anderen deutschen Staat. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Berlin, genauer: jener Flughafen, der heutzutage als BER bekannt ist.
Genau 35 Jahren ist es jetzt her, daß Mitte Juli 1986 der bundesdeutsche Kanzler Helmut Kohl (CDU) einen Brief an DDR-Staatschef Erich Honecker schrieb, in dem er diesem gegenüber deutlich machte, wie sehr der Zustrom illegal einreisender Ausländer die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten belaste. Gut einen Monat später, Ende August, traf der damalige Kanzleramtschef Wolfgang Schäuble (CDU) Honecker in Ost-Berlin und brachte Bonns Unmut über die Asylantenfrage zur Sprache. Die Bundesregierung gehe davon aus, „daß es zu gutnachbarlichen Beziehungen gehöre, wenn sie die Bitte äußere, daß die DDR bei der Lösung dieses Problems helfen möge“.
Mit Migranten die klammen Kassen gefüllt
Worum ging es? Und welche Rolle spielte das SED-Regime dabei? Ab etwa Mitte der achtziger Jahre erlangte die Einwanderung von Ausländern eine immer größere Bedeutung im politischen Ringen der beiden deutschen Teilstaaten miteinander. Denn die DDR schleuste immer mehr Asylbewerber über den Ost-Berliner Flughafen Schönefeld.
In der ersten Zeit waren es vor allem Tamilen aus Sri Lanka, die auf diesem Wege nach West-Berlin einreisten. Aufgrund des besonderen Rechtsstatus’ der Enklave unter Viermächte-Hoheit, war es weder dem West-Berliner Senat noch den bundesdeutschen Behörden möglich, dieses Nadelöhr zu schließen. Für die DDR war das ein einträgliches Geschäft, für das man dann auch einen entsprechenden Service bot: Die Flüge aus Colombo spülten Devisen in die klammen Kassen des heruntergewirtschafteten „Arbeiter-und-Bauern-Staates“. Die Ankömmlinge aus dem von ethnischen Konflikten und Bürgerkrieg gebeutelten Inselstaat wurden dafür mit Bussen direkt von Schönefeld zum Bahnhof Friedrichstraße gebracht, von wo aus sie problemlos per S-Bahn nach West-Berlin fahren konnten – und zumeist am Bahnhof Zoo strandeten.
Daß das Problem keine Kleinigkeit war, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Tatsächlich war die Zahl der Asylbewerber in der Bundesrepublik zwischen 1983 und 1984 von 19.737 auf 35.278 gestiegen. Und mehr als 60 Prozent der 73.832 Asylbewerber, die 1985 ohne gültige Einreisepapiere kamen, waren via Ost-Berlin eingereist – mit freundlicher Unterstützung der DDR-Behörden. Noch im ersten Halbjahr 1986 kamen 53,9 Prozent der 42.268 Immigranten über den Flughafen Berlin-Schönefeld in die Bundesrepublik; in diesem Jahr war die Gesamtzahl der Asylbewerber auf 99.650 angestiegen.
Bonn drängte auf Schließung des Schlupflochs
Für Bonn was dieses Schlupfloch ein echtes Ärgernis. Zunächst brachte man auf diplomatischen Kanälen die damit verbundenen Sorgen zur Sprache: Der Ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin, Hans Otto Bräutigam, äußerte gegenüber einem SED-Gesprächspartner, die Asylanten würden der Bundesregierung „in zunehmendem Maße Kopfzerbrechen bereiten“, so schilderte es der Historiker Jochen Staadt in einem Aufsatz für die Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat. Das würde, habe Bräutigam angekündigt, „ernsthafte Gespräche mit der DDR wegen der Schließung der ‘Lücke’ auf dem Bahnhof Friedrichstraße nach West-Berlin notwendig machen.“
Auch in der Presse mehrten sich kritische Stimmen: Die Zeit ärgerte sich im April 1985 mit recht drastischen Worten über die Vorgänge in West-Berlin: „Dort karrt die DDR wöchentlich Hunderte von Asylbewerbern an. Aber sie kann an ihnen nur dank der anscheinend unumstößlichen Regel verdienen, daß es am Grenzübergang in den Westen keine Kontrollen gibt. Warum nicht?“
Schließlich gaben sich immer mehr westdeutsche Politiker bei den DDR-Machthabern die Klinke in die Hand, um auf eine Lösung des Problems zu drängen. Im März 1985 war Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) noch bei SED-Politbüromitglied Herbert Häber abgeblitzt: Die DDR, so Häber, gehe „konsequent vom Prinzip der Transitfreiheit aus“. Es sei schon eine seltsame Forderung, von der DDR zu verlangen, sie müsse ein Grenzregime für West-Berlin errichten. Wer nach West-Berlin einreise, sei allein Sache der West-Berliner, behauptete der Spitzengenosse. (Wohlbemerkt zu einer Zeit, da die drei Alliierten sogar formal noch jeder Beförderung eines West-Berliner Polizisten ab Kommissar aufwärts zustimmen mußten.)
Ausgerechnet Ost-Berlin argumentiert mit Reisefreiheit
Aber ausgerechnet der Staat, der seine Bevölkerung eingemauert hatte, berief sich nun die völkerrechtlichen Grundsätze über die Freiheit des Durchgangsverkehrs und verkündete. „Durch das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik kann jeder Ausländer – ungeachtet seiner Nationalität, seiner Rasse, seiner Religion, seiner politischen Überzeugung und seines Herkunftslandes – ohne jegliche Beschränkung im Transit reisen.“
Doch immerhin lenkte Ost-Berlin im Sommer 1985 ein – zumindest was die tamilischen Bürgerkriegsflüchtlinge betraf. In Absprache mit der Staatssicherheit wies das DDR-Außenministerium seine Botschaft in Colombo an, Flüchtlingen aus Sri Lanka nur noch dann ein Transitvisum zu erteilen, wenn sie ein Anschlußvisum für die Bundesrepublik vorweisen könnten.
Dennoch stieg die Zahl der via Schönefeld eintreffenden Asylbewerber 1986 noch einmal an. Denn trotz der Regelung mit den Tamilen wuchs der Zustrom aus Ländern wie Ghana, Libanon und Iran. „Die Einschleusung von Wirtschaftsflüchtlingen ohne Paß und Visum über Ost-Berlin ist zu einer schweren Belastung der Beziehungen beider Staaten in Deutschland geworden“, echauffierte sich der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Heinrich Windelen (CDU).
Lafontaine: Die DDR nutzt Asylanten als „Hebel“
Kanzler Kohl entsandte im Sommer vor 35 Jahren nun seinen Amtschef Wolfgang Schäuble als deutschlandpolitischen Makler nach Ost-Berlin. Auf dessen Bitten antwortete Honecker mit der üblichen Formel, die Asylfrage müsse in erster Linie „die BRD“ lösen. Zynisch lobte der SED-Chef den Asylrechtsartikel des Grundgesetzes. Schließlich sei er selbst „in seinem Leben mehrfach auf politisches Asyl und einen Transit angewiesen gewesen“, zudem habe während des „Hitlerfaschismus“ die Asylgewährung verschiedener Staaten „vielen Menschen das Überleben ermöglicht.“ Honecker bestritt, daß der Gewinn von 3,5 Millionen Mark, den die Interflug durch den Transport der Asylbewerber einnehme, der Grund für die Haltung der DDR sei. Zumal nur 10.000 der über Schönefeld eingereisten Immigranten mit der DDR-Fluggesellschaft gekommen seien. Schäuble ließ im Gespräch durchblicken, daß ohne eine Lösung des Problems unter Mithilfe Ost-Berlins die Unterzeichnung von deutsch-deutschen Abkommen unwahrscheinlicher werde.
Und nun machte sich der Vorwahlkampf für die Bundestagswahl 1987 bemerkbar. Und der brachte das Ganze einer Lösung tatsächlich näher. Denn in der bundesdeutschen Bevölkerung wuchs die Unzufriedenheit angesichts des Zuwachses der Asylbewerber-Zahlen. Das, so fürchtete insbesondere die SPD, könnten CDU und CSU ausnutzen, zum Wahlkampfthema machen und so ihrer Siegeschancen erhöhen. Wenn die DDR „den Hebel Asylanten“ nutze, „um der Bundesregierung ihre Grenzen aufzuzeigen“, sei das „im Prinzip verlockend, aber für die SPD nicht hilfreich“, gab etwa der Sozialdemokrat Oskar Lafontaine zu bedenken.
Die SPD-Führung schickte schließlich Anfang September 1986 ihren gewieften Ost-Experten Egon Bahr zu den SED-Genossen, der ihnen erläuterte, warum die westdeutschen Konservativen am „Hochpeitschen“ des Asylthemas ein Interesse hätten. Er wolle also gemeinsam eruieren, ob es eine Lösung gebe, die im Hinblick auf das Ergebnis der im Januar 1987 anstehenden Bundestagswahl – und den SPD-Spitzenkandidaten Johannes Rau – günstig wäre.
SPD verspricht Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft
Historiker Staadt schildert anhand der SED-Akten Bahrs Vorstoß wie folgt: „Die CDU/CSU legt es darauf an, die DDR zu verleumden und dabei die Lösung hinauszuzögern. Aber ich möchte sagen, daß in der Bevölkerung der BRD leider ein zunehmender Unwille über den Zustrom der Asylanten wächst.“ Man habe sich zwar mit „griechischen, italienischen, jugoslawischen Gastarbeitern“ abgefunden. „Auseinandersetzungen begannen bereits mit den Türken. Aber jetzt sollen gar ‘Schwarze’ kommen. 75 Prozent der Wähler haben durch die Manipulierung Angst vor einer Überfremdung. Die Kohl-Regierung spielt die Ängste dieser 75 Prozent hoch. Das müssen wir zerschlagen. Wenn Kanzlerkandidat J. Rau in der Lage wäre, zu erklären, wir haben mit der DDR gesprochen, sie gibt sich Mühe, dann wäre das eine große Hilfe. Das ist eine Grundüberlegung.“
Am 10. September 1986 schrieb Bahr an Honecker, er könne bestätigen, daß Johannes Raus im Falle seiner Wahl zum Kanzler „eine verbindliche Erklärung in der Vorstellung seines Regierungsprogramms zum Thema der Respektierung der Staatsbürgerschaft abgeben wird, deren Wortlaut Sie ebenfalls vorher bekommen werden.“ Die Reaktion aus Ost-Berlin erfolgte prompt: Künftig könne den Transit über nur Schönefeld nutzen, wer über ein Anschlußvisum in die Bundesrepublik verfügte. Schon einen Tag später legten die zuständigen DDR-Behörden ihre Planungen vor, wonach alle Gesellschaften, die den Flughafen Berlin-Schönefeld anfliegen, die Beförderung von Bürgern des Libanon, Irans und Ghanas einstellen sollen. Zudem wurde angeordnet, „die Werbung durch Interflug in den drei genannten Ländern für Flüge nach Berlin-Schönefeld so zu gestalten, daß eine unmittelbare Bezugnahme auf Möglichkeiten der Weiterreise nach West-Berlin nicht mehr erfolgt“.
Eine Woche später meldete die ARD-„Tagesschau“, nach Angaben von SPD-Kanzlerkandidat Johannes Rau sei die DDR bereit, „den Asylantenzustrom nach West-Berlin zu stoppen“. Der damalige SPD-Vorstandspressesprecher Wolfgang Clement behauptete, es habe für diese Zusage keine Gegenleistungen gegeben. Die Bundesregierung begrüßte die geänderte Transitregelung, die CSU nannte alles ein „plumpes Wahlkampfmanöver“ – und die Grünen, die den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten schon damals zu einer Frage von Schuld und Sühne stilisierten, warfen der SPD vor, sie habe sich zum „Erfüllungsgehilfen der fremdenfeindlichen Asylpolitik“ gemacht.
Weder SPD noch SED konnten vom Ergebnis profitieren
Der Spiegel berichtete seinerzeit, an der Lösung sei wohl doch nicht nur die Sozialdemokraten beteiligt gewesen. So seien unter anderem auch 300 Millionen Mark für die Entschwefelung ostdeutscher Braunkohle-Kraftwerke geflossen, außerdem habe Bonn Vergünstigungen im innerdeutschen Handel eingeräumt, was sich für medizinische Geräte auswirkte, auf die man in der Ost-Berliner Charité dringend wartete.
Das Verhandlungsergebnis schlug sich sogleich in der Statistik nieder: 1987 ging die Zahl der Asylbewerber in der Bundesrepublik wieder deutlich zurück, auf 57.379 Personen. (Daß sie im darauffolgenden Jahr 1988 schon wieder auf 103.076 anstieg, hatte dann andere Gründe.)
Vielleicht kann auch im aktuellen Streit mit dem früheren KPdSU-Sekretär und Ex-Kolchosen-Direktor Lukaschenko eine Mischung aus Druck und Bestechungsgeldern zur Lösung des Problems beitragen. Vorläufer Honecker indes hat der Machtpoker mit der „Migrations-Waffe“ mittelfristig nur bedingt geholfen.
Die SPD, der man mit der eingefädelten Lösung zum Erfolg verhelfen wollte, verlor die Bundestagswahl 1987. Die schwarz-gelbe Koalition wurde fortgesetzt, Kohl konnte weiter regieren – und alle Pläne, Bonn endlich zur Anerkennung einer DDR-Staatsangehörigkeit zu bewegen, waren vom Tisch. Mit nicht geringen Auswirkungen zwei Jahre später, im Herbst 1989, als keine „Ausländer“, sondern Deutsche durch die Lücken in Mauer und Grenzzäunen kamen. Mit den bekannten – glücklichen – Folgen …