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Jahrgang 1929: Verhetzt und verheizt

Jahrgang 1929: Verhetzt und verheizt

Jahrgang 1929: Verhetzt und verheizt

Hitlerjungen
Hitlerjungen
Hitlerjungen bei der Ausbildung mit Pistole: Als „letzte Blutreserve“ eingeplant Foto: picture-alliance / akg-images
Jahrgang 1929
 

Verhetzt und verheizt

In den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs wurden immer jüngere Männer an die Fronten geworfen. Ab März 1945 erfolgte höchst uneinheitlich die Einberufung des Jahrgangs 1929. Die Überlebenden gehörten zu jener skeptischen Generation Nachkriegsdeutschlands, deren Idealismus am gründlichsten mißbraucht und zerschlagen worden war.
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Am 5. März 1945 durchbrechen US-Truppen die letzten Verteidigungsstellungen vor Köln, zwei Tage später sollen sie bei Remagen den Rheinübergang erzwingen. Britische und amerikanische Bomber radieren die Innenstadt von Chemnitz aus. Sowjetische Truppen erobern Stargard in Pommern, ostwärts Stettin; die Oder haben sie längst auf breiter Front erreicht. Und im Oberkommando der Wehrmacht verfügt Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel die Einberufung des Jahrgangs 1929.

Für Deutschlands Jugend war der Kriegseinsatz da längst alltägliche Realität. Als Feuerwehrleute, Luftschutzwarte, Brandmelder, Luftraumbeobachter oder Melder mußten Jugendliche schon bald die an der Front stehenden Männer ersetzen. Am 9. November 1942 machte Luftwaffen-Oberbefehlshaber Hermann Göring männliche Schüler ab 15 und Schülerinnen sowie alleinstehende Frauen ab 17 als Luftwaffenhelfer dienstpflichtig.

Ab 1944 waren Jugendliche auch an der Front eingesetzt

Wer als Luftwaffen- oder Marinehelfer eingezogen wurde, trug Uniform – meist die der Hitlerjugend –, wurde, zunächst heimatnah, kaserniert und erhielt nur noch Rumpf-Schulunterricht, galt aber nicht als Soldat. Als Flakhelfer bedienten nun vielfach Hitlerjungen die Geschütze der Abwehrbatterien, auf denen mit Verlust der Lufthoheit die Hauptlast der Luftverteidigung lag. Über ihre Gefallenen existiert keine Gesamtstatistik; ihr Blutzoll war gleichwohl erheblich.

Mit der Verschärfung der Lage an den Fronten rückte die männliche Jugend aber auch als Reservoir für die kämpfende Truppe ins Visier. Schon 1942 war die vormilitärische Ausbildung in der Hitlerjugend intensiviert worden. Reichsjugendführer Artur Axmann selbst soll 1943 die Idee aufgebracht haben, eine SS-Division aus HJ-Freiwilligen aufzustellen. 

Die 12. SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“, für die 16- bis 18jährige HJ-Mitglieder rekrutiert worden waren, war im Frühsommer 1944 einsatzbereit und wurde unverzüglich in Caen in der Normandie ins Gefecht geworfen, kämpfte beim Ausbruch aus dem Kessel von Falaise mit und war, als sie im Herbst 1944 auf Reichsgebiet zurückging, binnen kurzem um die Hälfte dezimiert worden. 

Der Fanatismus der kämpfenden Hitlerjungen hatte nicht nur die Gegner beeindruckt, sondern auch in der Führung des untergehenden Regimes hohe Erwartungen geweckt. Schließlich handelte es sich bei den 15- und 16jährigen Angehörigen der Hitlerjugend von 1944 um eine Generation, die praktisch ganz unter der Herrschaft Hitlers geprägt worden war.

Offiziell wurde noch immer freiwillig rekrutiert; doch der Druck, den Parteifunktionäre und Werber ausübten, war enorm. Dem aggressiven „Heldenklau“ der SS versuchten viele durch vorzeitige freiwillige Meldung zur Wehrmacht auszuweichen. Noch war das Reichsgebiet feindfrei und der Zugriff von Partei und Staat ungebrochen. 70 Prozent des Jahrgangs 1928 sollen sich bis Herbst 1944 freiwillig gemeldet haben.

Manche zogen den grotesken Schlußakt bis zum bitteren Ende durch

Nach dem Erlaß über die Bildung des „Deutschen Volkssturms“ fiel im Oktober 1944 auch der formale Mantel der Freiwilligkeit; die 16- bis 60jährigen waren jetzt wehrpflichtig. Schon vorher war das Einberufungsalter immer weiter nach vorne gerückt. Die Jahrgänge 1925 und 1926 waren bereits ganz oder teilweise 17jährig eingezogen worden; rund 280.000 Gefallene verzeichnet die Statistik allein unter ihnen. Auch der Jahrgang 1927 wurde schon ab Juli 1944 vollständig einberufen. Der Jahrgang 1928 galt nun als „letzte Blutreserve“.

Die Realität hatte sich da schon weit entfernt von den utopischen Planspielen der NS-Gewaltigen, die im Frühjahr 1945 noch von zehn neuen, reinen HJ-Divisionen träumten, die, in den Worten Himmlers, nicht von „Landserschliche“ verdorben werden sollten. Waffen und Ausrüstung waren schon für den „Volkssturm“ kaum vorhanden, die meisten trugen statt Uniformen Räuberzivil mit Armbinden, die sie als Wehrmachtsangehörige und damit völkerrechtlich als Kombattanten kennzeichneten.

Ab Januar 1945 wurden 15jährige für die Flakbatterien des Reichsarbeitsdienstes gemustert. Die Einberufung des Jahrgangs 1929 zur Wehrmacht ab März – bereits im Februar hatte Parteileiter Martin Bormann seine Eingliederung in den Volkssturm verfügt – erfolgte angesichts des nahen Endes und des latenten Gegeneinanders von Partei, Wehrmacht und SS höchst uneinheitlich. 

Die Truppenteile, zu denen die uniformierten Schüler geschickt wurden, wußten oft nichts mit ihnen anzufangen; einige folgten, begeistert oder aus Furcht, dem Gestellungsbefehl, nur um festzustellen, daß niemand mehr mit ihnen rechnete. Manche der Musterungsoffiziere und HJ-Führer, selbst Familienväter, schickten die jugendlichen Rekruten wieder weg. Andere zogen den grotesken Schlußakt bis zum bitteren Ende durch.

Wer Glück hatte, dem half ein alter Landser

Im friedlichen Südbaden wurden noch am 20. April in Schulen und Kinderlandverschickungsheimen für das „Panzervernichtungsregiment 21 der Hitlerjugend“ gemusterte Jugendliche vereidigt; zehn Tage später waren sie schon zersprengt oder in Gefangenschaft. Fanatismus und Illusionen vom „Endsieg“ zerbrachen für die meist kaum ausgebildeten und bewaffneten Jungsoldaten oft schon beim ersten Gefecht, Bomben- oder Tieffliegerangriff. 

Wer Glück hatte, dem half ein alter Landser, den Zusammenbruch zu überleben; doch bis zuletzt wurden selbst 16jährige als Deserteure hingerichtet. Andere gerieten in den Endkampf im Westen, den mörderischen Kessel von Halbe oder in die Abwehrschlachten im Osten, so wie die 600 Hitlerjungen des im März 1945 in Stettin aufgestellten „Bataillons Murswiek“. Man traue ihnen zu, als „Werwölfe“ einen russischen General im Hinterland auszuschalten, erzählt man ihnen; tatsächlich wird ihr Kampfeswille vor allem benutzt, um die Flucht des Autokonvois von Gauleiter Franz Schwede zu decken.

Wie viele ihren gläubigen Opfermut mit dem Leben bezahlten, verheizt oder als „Werwölfe“ oder SS-Angehörige von den Siegern getötet wurden, weiß niemand. Rund 60.000 Gefallene der Jahrgänge 1927 bis 1929 verzeichnet die Wehrmachtsstatistik; die wahre Zahl dürfte weit höher liegen. Die Überlebenden gehörten zu jener skeptischen Generation Nachkriegsdeutschlands, deren Idealismus am gründlichsten mißbraucht und zerschlagen worden war.

JF 10/20

Hitlerjungen bei der Ausbildung mit Pistole: Als „letzte Blutreserve“ eingeplant Foto: picture-alliance / akg-images
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