Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 war der verzweifelte Versuch des SED-Regimes, dem nichtabreißenden Exodus aus der DDR einen Riegel vorzuschieben. Bis dahin waren insgesamt 2,7 Millionen Deutsche nach Westen geflüchtet, seit der Abriegelung der innerdeutschen Demarkationslinie 1952 vor allem über das „Schlupfloch“ West-Berlin.
Doch auch danach blieb der Drang nach Freiheit ungebrochen, wenn auch mit einem hohen Risiko verbunden: Von den rund 370.000 Menschen, die nach dem Mauerbau den Versuch wagten, die DDR zu verlassen, wurden mehr als 72.000 inhaftiert. Sie sind die größte Gruppe der Maueropfer. Nicht zu vergessen sind daneben jene Westdeutschen, die mit selbstlosem Einsatz versuchten, DDR-Flüchtlinge in den Westen zu holen. Nicht selten mußte dafür ein hoher Preis bezahlt werden.
Beispielsweise von Matthias Bath, Staatsanwalt in Berlin. Der damals 20jährige Student hatte im Jahr 1976 auf Bitte eines hochrangigen Funktionärs der Jungen Union zugesagt, drei ihm unbekannte Menschen in einem präparierten Kofferraum in den Westen zu bringen. Bath gegenüber gegenüber der JUNGEN FREIHEIT: „Ich wollte etwas gegen diesen Zustand der nationalen Trennung tun.“ Für dieses hehre Motiv verurteilten ihn die DDR-Behörden, nachdem die Flucht am Grenzkontrollpunkt entdeckt worden war, zu fünf Jahren Haft. Als erster Fluchthelfer Deutschlands schrieb er über seine Geschichte ein Buch: „Gefangen und freigetauscht. 1197 Tage als Fluchthelfer in DDR-Haft“ (JF 35/07).
DDR-Bürgern gelangen mitunter spektakuläre Fluchten
Im öffentlichen Bewußtsein sind diese Schicksale des Opfergangs für die Freiheit und nationale Einheit dennoch bis heute kaum. Eher erinnert sich die Öffentlichkeit an die spektakulären Fluchten über die innerdeutsche Grenze. Doch auch hier – wie auch in vielen anderen Beispielen, etwa beim Diskuswerfer Wolfgang Schmidt – scheint es, als wären in Amerika das Bewußtstein und die Anerkennung für den unbedingten Freiheitswillen ungleich stärker ausgeprägt als in Deutschland selbst.
Dies zeigt sich auch beim legendären Tunnelbauer und Fluchthelfer der ersten Stunde, Hasso Herschel. Erst als die „Charta 77“ der tschechischen Bürgerrechtsbewegung erschien, beendete Herschel seinen Einsatz. Bis dahin hatte er an die tausend Menschen in die Freiheit verholfen. Doch der erfolgreichste Fluchthelfer des geteilten Deutschlands bleibt bescheiden. Angesprochen auf seine Heldentaten winkt er rasch ab.
Wie für Herschel von Anfang an klar war, daß er „in diesem Käfig nicht leben will“, war es auch den Familien Strelzyk und Wetzel bald bewußt, daß sie es in der DDR nicht länger aushalten würden. Am 16. September 1979 flohen sie mit einem selbstgenähten Heißluftballon von Thüringen nach Bayern. Auch ihre Geschichte wurde erst durch Hollywood auf die ihr gebührende Größe gebracht („Mit dem Wind nach Westen“, 1981).
Den minutiösen Ablauf der geradezu unglaublichen Konstruktionsleistung und Fluchtplanung schildert Günter Wetzel im Internet. Als maßgeblicher Konstrukteur des Unternehmens erklärt er gegenüber der JUNGEN FREIHEIT noch einmal die Motivation für das damalige Wagnis: „Man kann die Entscheidung zu diesem Schritt nicht an einem Ereignis festmachen“. Entscheidend seien aber die eingeschränkte Meinungs- und Reisefreiheit und berufliche Einschränkungen gewesen, aber „natürlich auch wirtschaftliche Interessen“. Warum dann die Flucht auf dem Luftweg, im Ballon? „Über Minenfelder geht’s nicht mit Kindern.“ Dabei sei ihnen das Risiko „damals nicht wirklich bewußt“ gewesen.
Mit Pfeil und Bogen über die Mauer
„Da der Wille, die DDR zu verlassen, sehr groß war, haben wir ganz einfach daran geglaubt, daß alles gut geht.“ Heute ist er sich bewußt, daß sie damals ungemein „viel Glück hatten“.
Solches verbindet auch die Fluchtgeschichten der drei Brüder Ingo, Egbert und Holger Bethke. Nachdem der älteste von ihnen, Ingo Bethke, im Mai 1975 mit einer Luftmatratze über die Elbe in den Westen gelangt war („Ich habe mir gesagt, mit diesem Staat willst du nichts mehr zu tun haben!“), folgte der jüngste Bruder Holger am 31. März 1983: Vom Dach eines Hauses in der Bouchéstraße im Ost-Berliner Stadtbezirk Treptow schoß dieser mit Pfeil und Bogen eine Angelsehne auf das Dachgeschoß des gegenüberliegendes Hauses in West-Berlin, an deren Ende ein Stahlseil geknüpft war. An diesem hangelte sich Holger Bethke zusammen mit einem Freund hinüber in den Westen.
Die DDR wollte sich für Republikflucht retten
Als die West-Berliner Polizei das Seil zusammengerollt hatte, erinnert sich Bethke gegenüber der JF, warfen die Beamten den Ballen über die Mauer zurück in den Osten und riefen den Grenzern ironisch zu: „Ey, ihr Penner, könnt ihr denn nicht aufpassen, hier hauen alle eure Leute ab!“ Zusammen holten die beiden ihren Bruder Egbert am 26. Mai 1989 mit zwei Leichtflugzeugen vom sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow ab.
Da sie sowjetische Hoheitszeichen an ihrem Heck hatten, waren sie zunächst geschützt – und landeten wie geplant auf der Wiese vor dem Reichstag. Dort ließen sie die Fluggeräte herrenlos zurück: „Wir hatten ja auch Angst vor den Alliierten“, so der einstige Flüchtling Egbert Bethke. Während Öffentlichkeit und Behörden rätselten, wem die Flugzeuge gehörten, genossen die Brüder ihre neugewonnene Freiheit auf dem Ku’damm. Bethke erinnert sich noch heute an „die plötzliche Freiheit, selbst entscheiden zu können“.
Hätte die Geschichte anders entschieden, wären die Brüder wohl von der Bildfläche verschwunden: Die Stasi wollte die drei noch im Januar 1990 in die DDR entführen.
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Dieser Text erschien in leicht veränderter Form in JF 33/11.