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Ursache der Kriegsniederlage 1918: Dolchstoß oder kein Dolchstoß?

Ursache der Kriegsniederlage 1918: Dolchstoß oder kein Dolchstoß?

Ursache der Kriegsniederlage 1918: Dolchstoß oder kein Dolchstoß?

Wahlplakat der DNVP von 1924: Die Sozialdemokratie erdolcht das deutsche Heer Foto: picture-alliance / akg-images
Wahlplakat der DNVP von 1924: Die Sozialdemokratie erdolcht das deutsche Heer Foto: picture-alliance / akg-images
Wahlplakat der DNVP von 1924: Die Sozialdemokratie erdolcht das deutsche Heer Foto: picture-alliance / akg-images
Ursache der Kriegsniederlage 1918
 

Dolchstoß oder kein Dolchstoß?

Wenn Gerichte über historische Wahrheiten entscheiden sollen, geht es meistens eher um Tagespolitik, als um die Vergangenheit. So war es auch beim Münchner Dolchstoßprozeß 1925. Die Richter sollten entscheiden, ob die Sozialdemokraten das deutsche Heer im Ersten Weltkrieg „erdolcht“ hatten.
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Wenn Gerichte über historische Wahrheiten entscheiden sollen, geht es meistens eher um die Tagespolitik, als um die Vergangenheit. Ein besonders eindringliches Beispiel dafür war der sogenannte Münchner Dolchstoßprozeß, der vor 95 Jahren mit einem Urteil endete, das beide Konfliktparteien in ihrem Sinne auslegen konnten.

Wegen der Frage, ob die Sozialdemokratie 1918 durch ihre Agitation den Zusammenbruch der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg bewirkt habe, trafen sich sieben Jahre später der konservative Herausgeber der Süddeutschen Monatshefte, Paul Nikolaus Cossmann, und der Chefredakteur der sozialdemokratischen Münchener Post, Martin Gruber, vor dem dortigen Amtsgericht wieder. Cossmann hatte genau das 1924 in mehreren Heften behauptet. Deswegen hatte ihm Gruber öffentlich vorgeworfen, die Geschichte zu verfälschen. Das ließ der Herausgeber nicht auf sich sitzen und verklagte Gruber.

Also sollten die Richter bewerten, was zur Niederlage des Deutschen Reiches geführt hatte. Im November 1918 hatte Deutschland die Waffen gestreckt. Zuvor hatten die Matrosen der Kriegsmarine in Kiel gemeutert. Von dort verbreitete sich die Revolution über das ganze Land. Angesichts der beständig wachsenden Überlegenheit des Feindes wäre wohl ohnehin nur noch hinhaltender Widerstand an der Westfront möglich gewesen. Jedoch standen die Soldaten des Kaisers zum Zeitpunkt der Kapitulation weit im Feindesland.

Dolchstoßvorwurf erhielt Nahrung durch Aussagen eines Kriegsgegners

Angesichts dieses Umstandes und des Ausbleibens eines Einmarsches der Entente-Truppen in Deutschland machte neben dem Vorwurf des Dolchstoßes durch die Heimatfront auch die Parole die Runde, die Armee sei „im Felde unbesiegt“. Beides belastete die Sozialdemokraten schwer, die nach der Abdankung Wilhelms II. das Ruder übernommen hatten.

Nahrung erhielt die These vom Dolchstoß Mitte Dezember 1918 durch einen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung. Darin wurden zwei Aufsätze eines britischen Generals zusammengefaßt, der den Zusammenbruch der deutschen Armee bewertete. Seine Analyse gipfelte darin, daß sie von der „Zivilbevölkerung von hinten erdolcht“ worden sei. Zwar waren das die Worte des Journalisten und nicht des Generals, aber die Formulierung verfehlte ihre Wirkung in Deutschland nicht.

Titelblatt eines der Hefte von Cossmann, in denen er die Dolchstoßlegende verbreitete Foto: picture-alliance / akg-images
Titelblatt eines der Hefte von Cossmann, in denen er die Dolchstoßlegende verbreitete Foto: picture-alliance / akg-images

Die SPD wies die Vorwürfe in aller Schärfe von sich. Sie beklagte, durch diese Behauptungen werde das Volk vergiftet. Im Gegenzug betonte sie in einer Erklärung während des Münchner Prozesses: „Den Sieg des Verteidigungskrieges wollten alle mit Einschluß der Mehrheits- und der Unabhängigen Sozialisten, aber nicht den des wahnsinnigen wahnwitzigen Eroberungskrieges.“

Das Urteil war scheinbar salomonisch

Bevor das Verfahren am 20. November 1925 endete, beriefen beide Seiten prominente Zeugen. Unter anderem sagte Vizeadmiral Adolf von Trotha zugunsten Cossmanns aus. Zur Unterstützung von Gruber traten die SPD-Politiker Otto Wels und Philipp Scheidemann auf.

Das Gericht fällte schließlich ein scheinbar salomonisches Urteil. Zwar habe es in Deutschland eine Agitation gegen die eigenen Truppen gegeben. Aber das sei nicht ursächlich für den Zusammenbruch der Front gewesen. Im Übrigen sei Cossmann hinsichtlich seiner publizistischen Verbreitung dieses Vorwurfs einem Irrtum erlegen. Gruber wurde wegen Beleidigung schuldig gesprochen und mußte 3.000 Reichsmark Strafe zahlen.

Nach diesem Richterspruch konnten die rechten Parteien in den folgenden Jahren freilich weiter darauf hinweisen, daß es „Wühlarbeiten“ der Reichsfeinde gegen die tapfer kämpfenden Soldaten gegeben habe. Der ehemalige Chef der Obersten Heeresleitung, Paul von Hindenburg, sollte erbitterter Verfechter dieser These werden. Andererseits lieferte das Urteil auch den Sozialdemokraten Argumente, die sie scheinbar entlasteten.

„Wer hat euch verraten?“

In den kommenden Jahren bis zur Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten zeigte sich jedoch, daß sich die Sozialdemokraten von der Schmähung als „Novemberverbrecher“, die das Reich auf dem Gewissen hatten, nicht reinwaschen konnten. Diese Attacken von Rechts befeuerte auch die USPD, eine linksradikale Abspaltung im sozialdemokratischen Lager, die sich damit brüstete, erfolgreich gegen die Fortsetzung des Krieges gewirkt zu haben.

Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg (l.) mit Kaiser Wilhelm II. während des Ersten Weltkriegs Foto: picture alliance
Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg (l.) mit Kaiser Wilhelm II. während des Ersten Weltkriegs Foto: picture alliance

Die Parole „Wer hat euch verraten? Sozialdemokraten!“, die in den 1920ern kursierte, stammte nicht von Monarchisten und rechten Parteien, sondern war ein Vorwurf der radikalen Linken. Damit drückten sie ihre Verachtung für die SPD aus, die 1919/20 kommunistische Aufstände durch rechte Freikorps niederschlagen ließ.

Cossmanns Lebensweg verlief tragisch

Cossmann, ein zum Christentum konvertierter Jude, engagierte sich in den folgenden Jahren wegen seiner monarchistischen Gesinnung publizistisch gegen die erstarkende NSDAP. 1938 wurde er im Zuge der Pogromnacht verhaftet. Vier Jahre später kam er in das Konzentrationslager Theresienstadt, wo er mit 73 Jahren den Tod fand.

Im Streit um die Kriegsniederlage des Kaiserreichs bündeln sich Aspekte der deutschen Zeitgeschichte: der Kampf der SPD gegen den ihr seit dem Kaiserreich anhaftenden Vorwurf, „vaterlandslose Gesellen“ zu sein und das Streben eines Teils des deutschen Judentums nach Assimilation. Es ist ein Beispiel für die Tragik des 20. Jahrhunderts, daß ausgerechnet ein konvertierter Jude publizistisch auch der NSDAP die Munition lieferte, die sie zur Beseitigung der Republik verwendete.

Wahlplakat der DNVP von 1924: Die Sozialdemokratie erdolcht das deutsche Heer Foto: picture-alliance / akg-images
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