Die Realität hat es schwer. Hat es immer schwer gehabt, zumal in der Politik. Denn jeder nimmt sie in Anspruch. Keiner möchte sich Realitätsverlust vorwerfen lassen, wenn es um entscheidende, also politische Fragen geht. Deshalb muß man darauf gefaßt sein, daß die politischen Parteien noch so widersprüchliche Analysen, Pläne und Projekte mit dem Gütesiegel „realistisch“ versehen und sich gegenseitig Wirklichkeitsverweigerung vorwerfen. Das ist nicht neu.
War es schon zu Bismarcks Zeiten nicht, allerdings war die Atmosphäre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine andere. Es gab nicht nur ein vorgeschobenes, sondern ein ernsthaftes Bemühen, die Dinge beim Namen zu nennen, und Bismarck wollte ausdrücklich nie zu denjenigen gehören, „die sich des Worts bedienen, um den Gedanken zu verbergen“.
Bismarck sprach bittere Wahrheiten aus
Seine „ehrliche Politik“ stand aber vor allem im Widerspruch zu den hochfliegenden Träumen, denen man sich in Deutschland lange hingegab. Träumen von dem, was den Menschen ausmacht, wie seine Welt gestaltet werden könnte, wie mit dem schlechten Alten zu brechen sei. Er wußte sehr genau: Das Streben der meisten ist nicht ideal, oder nur ausnahmsweise, Bildungsgrad und guter Wille sind keine Garanten für politisches Talent, eher im Gegenteil, die Staaten kennen keine Freundschaft, nur abgestufte Interessen, Gewalt war, ist und bleibt ein Mittel der Politik.
Daß sich die Dinge so verhalten, hat jeder politische Könner seit je gewußt. Das gilt vor allem für diejenigen, die an der Spitze der alten, machtgewohnten Großmächte Europas und dann der neuen Welt standen. Was sie irritierte, war allerdings, daß man im Deutschland Bismarcks bittere Wahrheiten offen aussprach, daß sich ausgerechnet in einem Volk, dessen Angehörige als Prinzipienreiter und Bürger philosophischer Wolkenkuckucksheime galten, eine Weltanschauung verbreitete, der daran gelegen war, die Realität zum Maßstab der Politik zu machen.
Härte in der Sache
In Frankreich, in Rußland wie in Großbritannien und den USA war der Weg nicht weit, um diesen „bismarckisme“ oder „bismarckism“ als Gipfel zynischer Gewissenlosigkeit zu brandmarken.
Dabei ging es Bismarck nur darum, einen anderen politischen Stil zu entwickeln, der, wenn möglich, auf die traditionellen Formen der Diplomatie jede Rücksicht nahm, aber das Ziel der eigenen Sicherung nicht aus den Augen verlor, ohne deshalb Machterweiterung als Selbstzweck zu betrachten. Nüchterne Erwägung und Maßhalten, Höflichkeit des Tons und Härte in der Sache konnten sich bei ihm verbinden.
Er wußte, daß man ihm gelegentlich vorwarf, „ein bißchen brutal zu sein“, aber doch nur, weil er die Finessen scheute und jene Mischung aus Konsequenz und Elastizität an den Tag legte, die notwendig war und notwendig ist, um als Land in der Mitte des Kontinents zu bestehen.
JF 14/15