Ihre im Juni 1944 gestartete Großoffensive brachte die Rote Armee bis Anfang September dicht vor die Reichsgrenze in Ostpreußen. Der geplante weitere Vorstoß Richtung Posen scheiterte am reorganisierten Widerstand des deutschen Ost-heeres, den die ausgebluteten sowjetischen Verbände nicht brechen konnten.
Die russische Kraft reichte allerdings zu zwei Offensiven gegen Ostpreußen. Mit 19 Schützendivisionen stieß die 3. Belorussische Front aus Litauen am 5. Oktober gegen Memel vor. Zwei Tage später war die östlichste deutsche Hafenstadt eingeschlossen, konnte jedoch als „Festung“ gehalten werden. Ein Großteil des Memellandes ging hingegen verloren. Am 9. fiel Heydekrug, am 10. Oktober Prökuls und Ruß. Die Rotarmisten gerieten dabei mitten hinein in die flüchtende Bevölkerung. Bei dieser ersten Begegnung mit deutschen Zivilisten passierten bereits schwere Übergriffe, Plünderungen, Vergewaltigungen, Erschießungen.
Die zweite Offensive, die am 16. Oktober zwischen Schirwindt und der Rominter Heide begann, sollte zeigen, daß es sich in der Memelniederung nicht um vereinzelte Disziplinlosigkeiten gehandelt hatte. Denn in den Ortschaften des südlichen Landkreises Gumbinnen verfuhren die Sowjettruppen der 11. Gardearmee nach dem gleichen Muster. Der heftigste Gewaltexzeß erfolgte am 21. Oktober 1944 in der 600-Seelen-Gemeinde Nemmersdorf. Dem Gemetzel fielen19 Einwohner zum Opfer.
Blutspur der Roten Armee
Hinzu kamen mindestens zehn weitere Morde an Flüchtlingen, die es mit ihren Trecks dorthin verschlagen hatte. Als die Soldaten der 5. Panzerdivison und der Fallschirm-Panzerdivision „Hermann Göring“ Nemmersdorf und Umgebung am 23. Oktober befreiten, stellten sie fest, daß in den Nachbardörfern wenigstens 50 weitere Menschen die kurzeitige Besetzung ihrer Heimat mit dem Leben bezahlt hatten.
Insgesamt forderte die sowjetische Kriegsfurie bei diesem ersten tieferen Einbruch ins Reichsgebiet also kaum hundert tote Zivilisten. Angesichts der etwa 3.500 Königsberger, die allein Ende August 1944 bei zwei Nachtangriffen der Royal Air Force umkamen, scheint das keine bemerkenswerte Verlustbilanz zu sein. Trotzdem rangierte Nemmersdorf im kollektiven Gedächtnis der vertriebenen Ostpreußen jahrzehntelang vor dem im britischen Feuersturm untergegangenen Königsberg, obwohl dessen Kriegsschicksal mit dem im Februar 1945 von Rotarmisten verübten Massaker im Vorort Metgethen sowie den Massenverbrechen in der am 9. April 1945 eroberten Provinzhauptstadt noch Steigerungsformen der Bestialität ausweist.
Wie erklärt sich daher die außerordentliche Prägnanz und Präsenz ausgerechnet der im Gesamtgeschehen marginal wirkenden Ereignisse in Nemmersdorf? Vermutlich, so simpel das klingen mag, durch die Macht der Bilder. Die verstümmelten Leichen in Metgethen sind nicht fotografiert worden, ebensowenig wie Millionen ermordete, geschändete, mißhandelte, ausgeplünderte, deportierte Ost- und Mitteldeutsche, die nach Nemmersdorf die breite Blutspur der Roten Armee auf ihrem Marsch Richtung Berlin markieren.
Niemand vergißt diese Bilder
Nur in den wenigsten Fällen konnten sich zudem offizielle deutsche Stellen aus Armee oder Verwaltung ein gut dokumentiertes Bild über die Tragweite sowjetischer Kriegsverbrechen machen, da eine Befreiung durch militärische Gegenoffensiven, wie im Gebiet zwischen Gumbinnen und Goldap im Herbst 1944, nach der sowjetischen Großoffensive vom Januar 1945 gegen Ostdeutschland in den seltensten Fällen gelingen sollte.
Die Nemmersdorfer Opfer hingegen wurden unmittelbar nach dem Gegenschlag der Wehrmacht penibel dokumentiert. Niemand, der die in vielen zeithistorischen Büchern zu Flucht und Vertreibung reproduzierten Fotos von den auf einem Dorfacker liegenden toten Kleinkindern und offensichtlich vergewaltigten Frauen gesehen hat, vergißt diese Bilder. Die Toten sind überdies „inszeniert“ und damit plastischer als unzählige gleich schwerwiegender Kriegsverbrechen ins öffentliche Bewußtsein gehoben worden.
Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, sorgte dafür, indem er Nemmersorf in den Mittelpunkt einer Pressekampagne stellte, die angesichts derart schauderhafter „bolschewistischer Greuel“ den Widerstandswillen von Front und Heimat festigen sollte.
Goebbels’ Deutung setzte sich im Kalten Krieg fort
Tatsächlich sorgten insbesondere östlich der Weichsel die Berichte über Nemmersdorf für Unruhe bei der Zivilbevölkerung, da die Erfahrungen mit von russischen Truppen begangenen Plünderungen, Tötungen und Verschleppungen aus dem Ersten Weltkrieg noch wach waren und die Glaubwürdigkeit der Propaganda eher bestärkten als sie in Frage stellten – erst recht nach mehr als drei Jahren unerbittlich geführtem Weltanschauungskrieg.
Nach 1945 fand Goebbels’ Deutung, wonach sich in Nemmersdorf jene die abendländische Kultur mit Vernichtung bedrohende Gegenwelt des bolschewistischen „Untermenschen“ einmal mehr offenbart habe, fast unzensiert Aufnahme im Propaganda-Repertoire des Kalten Krieges, so daß Nemmersdorf sich als Mosaiksteinchen nahtlos einfügte in die Darstellung vom Gulag-„Reich des Bösen“. Erlittenes von Hunderttausenden Ostdeutschen, die während Flucht und Vertreibung aus ihrer Heimat die Schrecken der Roten Armee hautnah erleben mußten, sorgte auch jetzt dafür, daß sich die Wahrhaftigkeit dieser Interpretation eher bestätigt als widerlegt fand.
Nach dem Mauerfall, dem Untergang der UdSSR und dem geschichtspolitischen „Wandel durch Annäherung“, der die Berliner Republik auf antifaschistischen SED-Kurs brachte, stand auch die in der „Nazipropaganda“ wurzelnde „Legende“ Nemmersdorf zur Disposition. Auf diesem Felde reüssierte Bernhard Fisch, 1926 geboren im Kreis Ortelsburg, in der DDR Russisch-Dozent, seit 1990 PDS-naher Protagonist „linker Vertriebenenpolitik“.
„Rache“ für „Hitlers Vernichtungskrieg“
Seine verdienstvolle, quellenkritische Studie über Nemmersdorf („Was in Ostpreußen wirklich geschah“, Berlin 1997) konnte eine Reihe tendenziöser NS-Übertreibungen und zahlreiche, auf Hörensagen beruhende Schilderungen korrigieren sowie die Unzuverlässigkeit des am häufigsten zitierten Augenzeugen, des Königsberger Volkssturmmanns Karl Potrek, nachweisen, auf den der Bericht von angeblichen „Kreuzigungen nackter Frauen an Scheunentüren“ zurückgeht.
Ein solches Bemühen um historische Wahrheit ist sicher anerkennenswerter als die Vermittlung nie quellenkritisch hinterfragter Versionen, wie sie im Ostpreußenblatt oder in der Literatur von Jürgen Thorwald üblich waren, oder als jene penetrante Kolportage von Halbwahrheiten, wie sie zuletzt Heinz Schöns mit Nemmersdorfer Schreckensbildern illustrierte „Königsberger Schicksalsjahre“ (Kiel 2012) boten.
Leider neigte Fisch seinerseits zu plumper Apologie der Roten Armee, die er nicht als „Bande von Mördern und Vergewaltigern“ angeklagt sehen will, da man deren Verbrechen als „Rache“ für „Hitlers Vernichtungskrieg“ verstehen müsse und die Deutschen ohnehin die „Hauptverantwortung“ für Leid und Untergang Ostpreußens trügen.
Rote Armee erkannte Völkerrecht nicht an
Kein Wort darüber, daß Gewalt gegen Wehrlose übliche Praxis dieser im Bürgerkrieg geborenen, Lenins Devise „Wer wen?“ gehorchenden Armee war, die das Völkerrecht des „Klassenfeindes“, einschließlich der Haager Landkriegsordnung, nicht anerkannte. Mit der Folge, daß Sowjetsoldaten unmittelbar nach dem 22. Juni 1941 begannen, wie der Völkerrechtler Alfred de Zayas später belegte, deutsche Kriegsgefangene in viehischer Weise abzuschlachten, zu foltern oder kurzerhand zu erschießen.
Immerhin rang sich der auch wegen seiner oral-history-lastigen Arbeit kritisierte Fisch dann 2006 das Zugeständnis ab, ungeachtet aller propagandistischen „Inszenierungen“ und der „Mythisierungen“ in der Nachkriegszeit sei das Verhalten der Roten Armee mit „internationalem Recht“ nicht vereinbar gewesen. Wo ihre Soldaten auftauchten, warfen sie die Staatsbürger des Deutschen Reiches rechtlich um 2.000 Jahre zurück in Barbarei und Sklaverei. Eine Einsicht, die rasch wieder verlorengegangen ist, wie heute ein Blick in den Nemmersdorf-Artikel der notorisch geschichtsklitternden Wikipedia-Enzyklopädie beweist.
JF 43/14