Mit einer zunächst irritierenden Erinnerung an „Leipzig“ beginnt die Antrittsvorlesung des Kölner Völkerrechtlers Claus Kreß (Juristen-Zeitung, 20/06) über „Versailles – Nürnberg – Den Haag“ als die für das Verhältnis zum „Völkerstrafrecht“ wichtigsten Stationen deutscher Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Was hat Leipzig auf dieser von Kreß offenkundig als Fortschrittsschema gehandhabten Linie verloren? Deutschlands größte Messestadt war bis 1945 Sitz des Reichsgerichts. Es war damit der gegebene Ort, um die im Versailler Vertrag verfügten, eine europäische Rechtstradition der Amnestierung radikal beendenden Prozesse gegen „Kriegsverbrecher“ stattfinden zu lassen. Obwohl es der deutschen Justiz glücklich gelang, sich den oktroyierten Verfahren weitgehend zu entziehen, und „Leipzig“ wegen der zugemuteten „asymmetrischen Verfolgung“ auch keine „positive Einstellung zum Völkerstrafrecht“ geweckt hat, sieht Kreß hier den Ausgangspunkt für eine Entwicklung, die im Nürnberger Tribunal gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ ein wichtiges Etappenziel erreichte. Die Nürnberger Prozesse sind bis heute juristisch umstritten, vor allem wegen der rückwirkenden Bestrafung des Angriffskriegs und der Konstituierung einer Ausnahmegerichtsbarkeit. Aber auch, wie Kreß noch von einem Granden des deutschen Strafrechts, dem neunzigjährigen Hans-Heinrich Jescheck, als soldatischem Zeitzeugen erfuhr, weil „der Sitz der Sowjetunion auf der Richterbank“ aus der „eigenen Kriegserfahrung heraus als besonders anstößig erscheinen mußte“. Jeschecks Generation, Politiker wie Juristen, hat folglich noch den bis zum Ende der alten Bundesrepublik verbreiteten Skeptizismus gegen die universalistische Ideologie des Weltrechts gepflegt. „Weltrechtsnormen“ sollten eben nicht, wie Jescheck dies abweichend von der „herrschenden Meinung“ vorschlug, den „Panzer der staatlichen Souveränität“ durchbrechen. Noch 1989 fällte der Doyen der deutschen Völkerrechtswissenschaft, Wilhelm G. Grewe, das „schnörkellose Negativurteil“, wonach nicht nur Rudolf Heß einem „Justizirrtum“ zum Opfer gefallen, sondern das hybride Unternehmen, souveräne Staaten unter das Kuratel eines Internationalen Strafgerichts zu stellen, zum Scheitern verurteilt war. Und Helmut Quaritsch stimmte ihm zu, wenn er dies als „Glasperlenspiele einer internationalen Juristensekte“ verhöhnte. Deutschland als Motor internationaler Strafjustiz Seitdem hat sich der Wind aber gedreht, so daß Kreß triumphiert: Die 1990er Jahre böten ein „fesselndes Stück juristischer Zeitgeschichte“, indem sie den soeben verachteten „Glasperlenspielern“ den Durchbruch bescherten. In der Beschreibung dieses Kontrasts erreicht Kreß‘ Darstellung tatsächlich ihre größte Anschaulichkeit. Ein wichtiger Schritt war dabei, daß die Kohl-Regierung Rechtshilfe bei der Verfolgung serbischer Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) für Jugoslawien leistete. Damit sei der stets gepflegte Vorbehalt „gegen Nürnberg“ – gegen das Rückwirkungsverbot – aufgelöst worden. Unter Kanzler Schröder habe sich die Bundesrepublik dann als eine der „weltweit treibenden Kräfte der Völkerstrafrechtspolitik“ profiliert. Nirgends sei dabei der Generationsbruch so klar zu erkennen gewesen wie bei den Freidemokraten. Unter Erich Mende sei die „Polemik“ gegen Nürnberg nachgerade kanonisiert worden, zu Zeiten Klaus Kinkels bildete die FDP indes die Speerspitze bei der Etablierung des Internationalen Strafgerichtshof. Inzwischen habe man das Grundgesetz geändert, um die Überstellung deutscher Staatsbürger an den IStGH zu ermöglichen. Im Sommer 2002 passierten dann das Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem IStGH und das Völkerstrafgesetzbuch nahezu einstimmig den Bundestag. Kreß, selbst seit zehn Jahren ein publizistischer Eiferer auf diesem Terrain, der auch in dem für palästinensische Leser leicht zynisch anmutenden Israel Yearbook for Human Rights für seinen Standpunkt wirbt, möchte diese „stürmische Entwicklung“ bis 2009 unter deutscher Ägide zum Abschluß gebracht wissen. Dann nämlich soll in der ersten Revisionskonferenz zum IStGH endlich die „letzte große Lücke im Völkerstrafrecht“ geschlossen werden: die Definition des „Angreifers“. Bis dahin bewegten sich etwa die „humanitären Interventionen“ und auch die Bundeswehr-Operationen im Rahmen des „Kriegs gegen den Terror“ in der weltrechtlichen Grauzone. Denn vor allem aus Sicht der afrikanischen und arabischen Staaten könnte man sie „völkerrechtlichen Zweifeln“ aussetzen und sie als „Angriffskriege“ stigmatisieren. Da die völkerrechtspolitisch radikal gewendete politische Klasse der Berliner Republik aber nunmehr „Deutschlands Angriffskriege unter dem Nationalsozialismus“ zum „Anstoß“ genommen habe, um zum „überzeugten Mitgestalter des in der Entstehung begriffenen Systems der Völkerstrafrechtspflege“ aufzusteigen, werde sie 2009 ihren „couragierten Beitrag“ leisten, um den „Angriffskrieg“ effektiv sanktionieren zu können. Ob die von Kreß aufgezählten „Freunde“ Berlins, Briten, Franzosen und US-Amerikaner, dabei mitmachen werden, erörtert der Kölner „Glasperlenspieler“ lieber nicht.