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Die preußische Mobilmachung

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Am späten Nachmittag und Abend des 20. Juli 1944 tat sich bei den Wehrkreiskommandos in Deutschland erstaunliches. Es liefen Befehle ein, nach denen sämtliche Telegrafenämter, Funkstationen und Kraftwerke zu besetzen waren. Gleiches sollte in Konzentrationslagern und Gestapodienststellen vonstatten gehen. Nicht genug damit, sollten zudem sämtliche Gauleiter, Reichsstatthalter, Minister, Oberpräsidenten, Polizeipräsidenten, Höhere SS- und Polizeiführer und Gestapoleiter verhaftet werden. Jede von der NSDAP befohlene Parteiarbeit war sofort zu stoppen, die Dienststellen der Partei zu schließen, ihr Vermögen wurde für beschlagnahmt erklärt. Im nationalsozialistischen Herrschaftssystem würde kein Stein auf dem anderen bleiben, soviel mußte jedem klar werden, der diese Befehle las. Als Begründung für all das sprach eine einleitende Meldung von einem Aufstand durch Teile der Partei und der SS gegen die legitime Führung und appellierte damit an erhoffte Vorbehalte gegen den Parteiapparat innerhalb der Wehrmacht. Hitlers spätere Auslassung über die „Clique“, die hinter allem stecken würde, wurde zu diesem Zweck fast wörtlich vorweggenommen: „Der Führer Adolf Hitler ist tot. Eine gewissenlose Clique frontfremder Parteiführer hat es unter Ausnutzung dieser Lage versucht, der schwerringenden Front in den Rücken zu fallen und die Macht zu eigennützigen Zwecken an sich zu reißen.“ Spätestens an dieser Stelle jedoch stutzten die Befehlsempfänger, denn gleichzeitig kam über den Rundfunk die Nachricht, auf Hitler sei ein Attentat verübt worden, er sei aber unverletzt. Man konnte daher unschwer einen Zusammenhang zwischen diesem Ereignis und den merkwürdigen Anordnungen gegen zentrale Dienststellen des NS-Staates herstellen, zumal die erste Meldung die Unterschrift des Generals Erwin von Witzleben trug, der bereits seit zwei Jahren aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war. Daß zudem nun ausgerechnet die NSDAP sich gegen ihren Parteichef wenden sollte, erschien von vornherein nur wenig plausibel. Die Meldung über Hitlers Weiterleben tat ein übriges. An den meisten Orten passierte folglich wenig oder nichts. Abgesehen vom Sonderfall Paris wurde lediglich in Wien, Prag und Kassel versucht, die empfangenen Befehle auch auszuführen. Ein kühnes Unternehmen war bereits im Ansatz gescheitert. Der Bluff der Verschwörer gelang nicht. Hitler hatte „Walküre“ schon 1942 abgesegnet Was am 20. Juli 1944 an die Wehrmachtsdienststellen übermittelt wurde, beruhte auf den militärischen Anweisungen des Plans „Walküre“, der ursprünglich zur Bekämpfung innerer Unruhen unter den Millionen ausländischer Arbeiter in Deutschland oder für den Fall eines massiven Angriffs durch Luftlandetruppen ausgearbeitet worden war. Generalstabschef Olbricht hatte Hitler „Walküre“ im Januar 1942 vorgeschlagen und der stimmte der vorgetragenen Form damals zu. Entsprechend den Vorgaben setzte „Walküre“ prinzipiell das Heer in ganz Deutschland in Alarmbereitschaft. Besonderen Wert legte der Plan auf die Kontrolle der Informationswege, die für das Gelingen eines Aufstands oder sein Niederschlagen entscheidend sein würden. Dies galt weitgehend unabhängig davon, ob der Fall „Walküre“ durch flächendeckende Luftlandungen alliierter Streitkräfte, einen organisierten Aufstand der vielen Millionen ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland oder eben durch einen Staatsstreich innerhalb des Offizierskorps ausgelöst werden würde. Ohne Koordination würde jedes derartige Unternehmen zusammenbrechen. Bereits der ursprüngliche Plan sah daher vor, alle wichtigen Gebäude und Anlagen des Post- und Wehrmachtnachrichtendienstes militärisch zu sichern. Dies mußte flächendeckend geschehen, da es keinen einzelnen, zentralen Punkt gab, der besetzt und damit als Vermittlungsstelle ausgeschaltet werden konnte. Im Falle des Staatsnotstandes sollten Teile des Ersatzheeres alarmiert und an zuvor bestimmte Orte verlegt werden. Dazu gehörten unter anderen jene Einheiten, die Soldaten ausbildeten und aus deren Bestand die Kräfte an der Front aufgefüllt wurden. Chef des Stabes beim Ersatzheer wurde 1944 Claus von Stauffenberg, sein direkter Vorgesetzter war General Fromm. Das erlaubte es den Verschwörern, die militärischen Schritte des Umsturzes getarnt vorzubereiten. Dabei wurde die ursprüngliche Form von „Walküre“, die sich natürlich nicht gegen Parteidienststellen gerichtet hatte, unbemerkt in Richtung auf einen Regimewechsel verändert. Der Plan vertraute auf das nahezu reflexartige Abarbeiten dienstlicher Weisungen innerhalb der Befehlsstrukturen, er setzte es voraus. Das war eines seiner Handikaps, aber es stellte zugleich eine der wenigen Möglichkeiten dar, wie diese Militärverschwörung ohne Waffen überhaupt vorgehen konnte. Luftwaffe und Marine hatten fast keinen Anteil Von den Waffengattungen der Wehrmacht hatten die Luftwaffe und die Marine keinen entscheidenden Anteil an der Verschwörung, auch nicht die Truppenkommandeure der Landstreitkräfte. Der Kern der Verschwörer hatte sich immer im Generalstab des Heeres befunden, was den Nachteil mit sich brachte, daß die beteiligten Generalstabsoffiziere selbst „frontfremd“ waren, wie sie es in ihrem Aufruf der von ihnen erfundenen „Parteiclique“ unterstellten, die angeblich den Aufstand geprobt hätte. Auch Stauffenberg hatte keine direkte Befehlsgewalt über einen Truppenverband. Aus diesem Nachteil heraus hatte die Verschwörung den Sprung nach vorn gewagt und sich gar nicht erst damit abgegeben, kleinere Truppenformationen auf ihre Seite zu bringen. Das hätte wohl auch allenfalls in den Bürgerkrieg geführt. Statt dessen plante man im großen Stil und wollte Divisionen und ganze Armeen bewegen. Dies war in den Augen der entscheidenden Personen nicht ohne ein erfolgreiches Attentat auf Hitler und eine gleichzeitige zusätzliche Desinformationskampagne gegen die betroffenen Truppenteile möglich. Unter den Verschwörern war Goerdeler eine Ausnahme, der es riskieren wollte, nach dem Attentat einen offenen Aufruf gegen Hitler selbst und die von ihm eingesetzten Autoritäten auszugeben. Diese Skepsis war nicht unbegründet. Es war den Attentätern durchaus bewußt, daß in der Wehrmacht auf vielen Ebenen des Offizierskorps eine unkalkulierbare Zahl regimetreuer Zwischenträger saß, die einen offen anti-nationalsozialistischen Befehl wahrscheinlich sabotieren würden. Diese Aussicht wuchs mit jedem Kriegsjahr, in dem jüngere, nationalsozialistisch geprägte Offiziere höhere Funktionen einnahmen und sie wuchs auch mit den zunehmend erfolgreichen Versuchen des Reichsführers-SS, von den Befehlsketten der Wehrmacht abgelöste Einheiten zu formieren. Daher wurde in den veränderten „Walküre“-Entwurf ein Passus eingebaut, nach dem die Waffen-SS in die Wehrmacht einzugliedern sei, was diesen nicht glaubwürdiger machte. In jedem Fall würde die Wehrmacht bei allen Vorbehalten gegen das Regime nicht geschlossen gegen die politische Führung handeln. Einen Grund mehr lieferte die rücksichtslose Kriegsführung der Alliierten und deren Forderung nach bedingungsloser Kapitulation, die selbst kritische Soldaten und Offiziere hinter dem Staatschef versammelte. Witzleben spitzte die Lage bereits 1942 auf den Satz zu: „Bringen sie mir eine einzige Division, die gehorcht, wenn ich den Befehl gebe, gegen Hitler zu marschieren. Dann schlage ich los.“ Der reichsweite Aufstand war theoretisch lückenlos Durch solche Überlegungen ließen sich die Verschwörer allerdings nicht von ihren Plänen abbringen. Sie versuchten die Schwäche der mechanisierten, unpersönlichen Form der Befehlsgebung moderner Heeresorganisationen auszunutzen, wo Offiziere als Ausführende eines Befehls von oben den Befehlsgeber oft nicht zu Gesicht bekamen, sondern nur ein Papier mit dessen Order. General Olbricht und Oberst Graf Stauffenberg waren Zwischenträger derartiger Befehle, die von Generaloberst Fromm, dem Oberbefehlshaber des Ersatzheeres ausgingen. Sie nutzten diese Stellung und gaben den Walküre-Befehl in einer Form weiter, in der sie ihn nie erhalten hatten. Sie verfaßten ihn selbst und fälschten die Unterschrift. Als der empörte Fromm sich weigerte, den fälschlich unter seinem Namen ausgelösten „Walküre-Alarm“ nachträglich zu billigen, wurde er von Stauffenberg selbst nach kurzem Handgemenge verhaftet. Auch Fromm hatte sich jedoch durch seine mindestens nachlässige Amtsführung und seine Duldung der Putschvorbereitungen in den Augen des Regimes diskreditiert und wurde wegen seiner Rolle später hingerichtet. Aus den Inhalten der Befehle, die am 20. Juli von der Bendlerstraße aus verschickt wurden, geht klar hervor, daß die Verschwörer nicht nur vorhatten, einige Schlüsselpositionen des Regimes zu besetzen. Sie wollten ganz Deutschland in ihre Hand bekommen. Der Aufstand war theoretisch lückenlos. Sie wollten alle Großstädte, Industriezentren und Provinzstädte, alle Dienststellen des Front- und Heimatheeres, alle NS-Formationen und Parteifunktionäre und den zivilen Staatsapparat unter ihre Kontrolle bringen. Das Chaos, das den Umsturz zwangsläufig begleiten würde, wollten sie gezielt steuern. Innerhalb weniger Stunden beanspruchten sie unter anderem die Funktionen der Befehlshaber des Ersatzheeres, der Reichsregierung und des Oberbefehlshabers der Wehrmacht für sich. Dieses Spiel war ebenso gewagt wie aus Sicht der Mehrheit der Verschwörer unvermeidlich. Es scheiterte an vielen Dingen, nicht zuletzt jedoch an der Mentalität des deutschen Offiziers, der sich keineswegs als kritikloser Automat zeigte. Weit entfernt davon, gedankenlos die gegebenen Befehle auszuführen, kam es schnell zu kritischen Nachfragen in der Bendlerstraße selbst, ebenso an anderen Orten. Diese Entwicklung wurde durch die bald eintreffenden Gegenbefehle aus dem Führerhauptquartier beschleunigt, aber nicht davon ausgelöst. Weil die Verschwörer kritische Anfragen von Anfang an nicht offensiv, sondern nur ausweichend beantworteten, und es auch nur schwer plausibel zu machen war, warum die Offiziere in der Bendlerstraße derart weitgehende Vollmachten besitzen sollten, wurden ihre Anordnungen im Gegenzug lediglich hinhaltend behandelt. Eine Ausnahme machte Wien. Hier folgte der General der Panzertruppen von Esebeck den eingegangenen Anweisungen in der Überzeugung, daß es sich um echte Befehle handelte, denen man als Soldat auch nachzukommen habe. Er ließ die führenden Parteimitglieder und den Polizeipräsidenten festsetzen, denen er staatsfeindliche Aktionen durchaus zutraute. Es sei bedauerlich, erklärte er, daß eine solche „Schweinerei“ passiert sei, wie die Revolte von Kreisen der Partei und SS gegen Adolf Hitler. Die Wehrmacht würde im Sinn des Führers handeln und die Macht übernehmen. Auch er rief aber, als aus Ostpreußen gegenteilige Befehle des Oberkommandos der Wehrmacht kamen, zur Klärung mehrfach in Berlin an. Als die Antwort von Generaloberst Hoeppner nicht befriedigen konnte, klärte ein Anruf in Rastenburg die Lage endgültig. Am frühen Morgen des nächsten Tages war auch in Wien wieder alles beim alten. Zum schnellen Zusammenbruch des Unternehmens im Reich trug die unsichere Führung Hoeppners auch an anderer Stelle bei. Obwohl von Stauffenberg dazu gedrängt, „den Befehlshabern der Wehrkreise scharf einzuheizen“, gab er in den von ihm geführten Telefonaten weder besonders präzise, noch wirklich energische Anweisungen. Seine Unsicherheit führte dazu, daß es auch in Prag nur bis zum späten Abend des 20. Juli dauerte, bis das Regime die Oberhand gewann. Zwar gelang es Stauffenberg persönlich, den dortigen Kommandeur General Schaal mit der falschen Auskunft, Hitler sei tot, zur Ausführung der Befehle und zur Verhaftung des SS-Standartenführers und Ministerialrats Gies zu überreden. Als Schaal später zurückrief und mit Hoeppner sprach, machte der jedoch einen derart unentschlossenen Eindruck, daß Gies freigelassen wurde und Schaal sich seinerseits verhaften ließ. So zeigte der Verlauf des 20. Juli das fehlende Zutrauen in die eigene politische Perspektive der Verschwörung noch einmal in aller Klarheit. Seit 1938 war in wechselnden Konstellationen darüber nachgedacht worden, wie das nationalsozialistische Regime durch die Wehrmacht gestürzt werden könnte. Zu keinem Zeitpunkt waren sich die Verschwörer aber der Unterstützung durch die Bevölkerung oder die Wehrmacht wirklich sicher. Vor diesem Hintergrund entstanden gewagt konstruierte Attentatspläne und ein verdecktes Unternehmen zur schleichenden Übernahme eines ganzen Industriestaats mitten im Krieg. Auch deswegen wurde in den Kreisen der Attentäter der symbolische Charakter des ganzen Unternehmens immer wieder zugegeben. Letzten Endes scheiterten sowohl das Attentat wie auch das Unternehmen „Walküre“. Es ist jedoch Spekulation, ob ein erfolgreiches Attentat den Staatsstreich hätte gelingen lassen und die Männer um Stauffenberg wirklich an die Macht hätte bringen können. Das Verhalten der Wehrmachtsdienststellen am Abend des 20. Juli 1944 spricht dagegen. Foto: Hitler begrüßt Generaloberst Fromm in der „Wolfsschanze“ (15. Juli 1944, links Stauffenberg, rechts Generalfeldmarschall Keitel): Man plante im großen Stil Dr. Stefan Scheil ist Historiker und veröffentlichte 2003 seine Studie über die europäische Außenpolitik vor 1939, „Fünf plus zwei“, bei Duncker & Humblot.

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