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Die Generalprobe einer Landnahme

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Die Generalprobe einer Landnahme

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Im Vorwort seines Buches "Die Entdeutschung Westpreußens und Posens – Zehn Jahre polnische Politik", das 1930 erschien, schrieb Hermann Rauschning den Satz: "Die Gegenwart hat ein schlaffes Gedächtnis". Er wollte dem Vergessen der Provinzen Posen und Westpreußen auf deutscher Seite und der Verzerrung der Geschichte auf polnischer Seite entgegenwirken. Rauschning hatte die Unbill der Deutschen in Posen und Westpreußen jahrelang am eigenen Leibe erlebt.

Bezieht man Rauschnings Wort vom schlaffen Gedächtnis auf die heutige Zeit, so hat es mehr als je zuvor volle Gültigkeit! Man spricht kaum noch von dem verlorenen Osten, und wenn, dann sind die Gebiete jenseits der Oder und der Neiße gemeint, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Deutschland abgetrennt worden sind: Ostpreußen, Pommern, Schlesien und das östliche Drittel der Provinz Brandenburg. Aus diesen Gebieten sind die Deutschen 1945 und danach unter brutalen Umständen vertrieben worden. Hinter diesem Unrecht und Leid, das auch Unrecht bleibt, wenn inzwischen die neuen uns auferlegten Grenzen anerkannt sind, ist die polnische Zermürbungs- und Vertreibungspolitik zwischen den Weltkriegen in den Schatten getreten und fast in Vergessenheit geraten. Heute hört man schon zuweilen, Pommern, das sei wohl Polen, und Schlesien habe wohl immer zu Polen gehört. Die Zeit tut ihre Wirkung. Dagegen schrieb Rauschning schon damals an.

Der Versailler Vertrag bestimmte die Abtretung der Provinzen Posen und Westpreußen an Polen. Zuvor handelte es sich hier im Gegensatz zu den erwähnten rein deutschen Gebieten um Provinzen, die von Deutschen, Polen und Kaschuben gemischt bewohnt wurden. Anders als nach 1945 war die polnische Politik nach dem Ersten Weltkrieg nicht auf die vollständige Vertrei- bung der Deutschen abgestellt, sondern nur auf ihre Zermürbung, Assimilation, Ausweisung, doch blieb das Leid schon damals für die Betroffenen groß genug – wie die Folgen der Abtretung für Deutschland einschneidend waren.

Die deutsche Minderheit wurde massiv unterdrückt

Die Abtretung Posens und Westpreußens erfolgte im allgemeinen ohne eine Abstimmung der Bevölkerung über ihre nationale Zugehörigkeit. Die Grenzziehung wurde aufgrund der preußischen Statistik von 1910 über die Bevölkerungsmehrheit in den einzelnen Kreisen vorgenommen. Nur wenige Kreise an der deutschen Grenze blieben deutsch, besonders auch im Abstimmungsgebiet des späteren Regierungsbezirkes Marienwerder, alle anderen wurden polnisch, auch wenn sie wie Bromberg deutsche Mehrheiten hatten. Dabei zählte man ohne Abstimmung die Kaschuben in Westpreußen als Polen, was im Hinblick auf das Abstimmungsverhalten der Masuren in Ostpreußen, die sich für Deutschland erklärten, sicher nicht korrekt war. Danzig wurde zu einer Freien Stadt unter Völkerbundsmandat erklärt, wo trotz deutscher Bevölkerung der neue polnische Staat erhebliche Rechte erhielt, z.B. über die Post und die Bahn.

Im großen und ganzen konnten die territorialen Ergebnisse noch als Kompromiß verstanden werden. Strittig blieben neben dem Status für Danzig die Einverleibung Westpreußens, um Polen den versprochenen Zugang zum Meer zu ermöglichen. Dieser Zugang wurde von reichsdeutscher Seite als polnischer Korridor bezeichnet. Er trennte die deutsche Landverbindung nach Ostpreußen, das nur noch mit verplombten Eisenbahnzügen erreicht werden konnte. In dieser Konstruktion und im Status Danzigs lagen künftige Konfliktherde, die für jedermann erkennbar waren.

Die Nationalitäten in dem neuen polnischen Staat verteilten sich 1921 nach amtlicher polnischer Zählung auf 69,2 Prozent Polen, 14 Prozent Ukrainer, 7,8 Prozent Juden, 3,9 Prozent Weißrussen, 3,8 Prozent Deutsche und 2,3 Prozent Sonstige. Die Rechte der Minderheiten sollten durch einen "Minderheitenschutzvertrag" gesichert werden, dessen Garantie dem Völkerbund übertragen wurde. Er galt allerdings nur für Staatsbürger – also Bewohner, soweit sie für Polen optiert hatten. Der vertragliche Status der Minderheiten wurde von Polen nur unter Zähneknirschen akzeptiert, war doch das politische Ziel, Polen zu einem einheitlichen polnischen Nationalstaat zu machen. Die polnische Minderheitenpolitik kann daher weitgehend als eine Politik zur Aushöhlung und Ignorierung des Minderheitenvertrages verstanden werden.

Wer für Deutschland optierte, mußte im Prinzip Polen verlassen und seinen Besitz verkaufen. Andernfalls konnte sein Besitz vom Staat "liquidiert", das heißt enteignet werden. Diese Bestimmungen führten dazu, daß viele deutsche Besitzer von Grund und Boden für Polen optierten, um ihr Eigentum zu behalten. In Posen und Westpreußen konnte nur abstimmen, wer dort vor 1908 seinen ständigen Wohnsitz hatte.

Die Deutschen in Posen und Westpreußen lebten nun nicht mehr in Deutschland, sondern in Polen. Es ergaben sich vielfältige Unsicherheiten und Ängste; man war vom guten Willen der Polen abhängig. Die existentielle Frage lautete, was man noch in Polen machen konnte und durfte. Auch für Rauschning bestanden wenig rosige Aussichten. Er hatte an den Universitäten München und Berlin Musik und Geschichte studiert und zum Dr. phil. promoviert. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Offizier teil. Er wurde verwundet und kehrte nach dem Krieg zu seinen Schwiegereltern nach Thorn zurück.

Schließlich erhielt er jedoch in Posen eine feste Stellung als Leiter der Deutschen Bücherei. In dieser Stellung entfaltete er viele Aktivitäten für das deutsche Volkstum, wie die Gründung von Zeitschriften, welche die Zielsetzungen der deutschen Minderheit verfolgten und dabei alle kulturell und wissenschaftlich bedeutenden Persönlichkeiten in ihren Beiträgen zusammenführten. Darüber hinaus organisierte er ein übergeordnetes Bibliothekswesen und veröffentlichte Leitsätze für eine gestaltende Volkserziehung. Automatisch wurde er zu einem Sammelpunkt für Informationen über die Auswirkungen der polnischen Vorschriften. Der polnischen Seite war er bald ein Dom im Auge.

1924 erhielt er vom Innenminister zum dritten Mal die Anweisung, Polen innerhalb von 24 Stunden zu verlassen, was erst nach Intervention eines deutschen Sejm-Abgeordneten wieder zurückgenommen wurde. Aber Rausch-ning blieb Ziel mannigfaltiger polnischer Anfeindungen. Seine erste Arbeit über die Abwanderung aus den ehemals preußischen Provinzen konnte er 1926 nur unter einem Pseudonym in einer deutschen Zeitschrift erscheinen lassen. Das alles mag dazu beigetragen haben, daß er seinen Aufenthalt in Polen 1926 beendete und in das Gebiet der Freien Stadt Danzig überwechselte. Hier erst schrieb er das eingangs erwähnte Buch, das 1930 in dem Berliner Verlag Reimar Hobbing erschien und 1988 im gleichen Verlag, jetzt in Essen, von dem Osteuropa-Historiker Wolfgang Kessler unter dem Titel "Die Abwanderung der deutschen Bevölkerung aus Westpreußen und Posen 1919 – 1929" im Nachdruck herausgegeben worden ist.

Allen europäischen Völkern, auch den besiegten Deutschen, hatte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson einen "Frieden der Gerechtigkeit" verheißen. Als die neuen Grenzen bekannt wurden, waren die Deutschen erschüttert. Immerhin war der Zugang Polens zum Meer ohne Gebietsabtretungen diskutiert worden. Deutschland wollte für Polens Schiffahrt international garantierte Zugangsrechte gewähren. Aber die polnische Propaganda brachte geschickt den Gedanken der "Wiedergutmachung" ins Spiel, womit die Wiederherstellung der polnischen Grenzen von 1772 vor den polnischen Teilungen gemeint war. So blieb es bei der Abtretung Posens und Westpreußens an Polen.

Anfängliche polnische Toleranzversprechen wurden nicht gehalten. Im Gegenteil kam es sehr schnell zu Übergriffen gegen die deutsche Bevölkerung, bis hin zu Mordtaten. Führende Beamte und evangelische Geistliche wurden monatelang interniert, 8.000 Zivilisten wochenlang bei schlechter Verpflegung und mangelhafter Unterbringung in ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager gesperrt.

Der spätere polnische Kulturminister Stanislaw Grabski erklärte 1919 auf einer Großkundgebung in Posen, der Prozentsatz der Deutschen müsse von zwanzig auf 1,25 gesenkt werden: "Das fremde Element wird sich umsehen müssen, ob es sich anderswo besser befindet. Das polnische Land ist ausschließlich für die Polen bestimmt!"

Gewerbetreibende wurden zum Verlassen des Landes gezwungen, indem man ihnen Rohmaterialien und Brennstoffe sperrte, Grundbesitzer praktisch enteignete, weil der Verkauf ihres Besitzes an deutschstämmige Staatsbürger verboten war. Beschwerden bei der polnischen Regierung führten zu beschwichtigenden Erklärungen – so auch des Staatspräsidenten Józef Pilsudski – änderten aber nichts.

Da einige Jahre lang unklar war, ob Optanten für Deutschland weiterhin im Lande bleiben durften, entstand eine Pogromhetze. So erklärte der Starost Ossovski auf dem Culmer Marktplatz: "Wenn ein Deutscher oder Jude wagt, irgend etwas gegen den polnischen Staat zu sagen, so bindet ihn mit Stricken und schleift ihn durch die Straßen." Diese Hetze wurde vielfach durch katholische Geistliche während des Gottesdienstes unterstützt. Willkürliche Verhaftungen, Mißhandlungen auf der Straße, Massenplünderungen und Hausdurchsuchungen waren an der Tagesordnung. Zahlreiche Personenkreise wurden ausgewiesen, so auch junge Deutsche, die zum Militär eingezogen werden sollten und sich weigerten. In Birnbaum erfolgte die Aufforderung zur sofortigen Option unter Strafandrohung durch hektographierte Postkarten.

Die Verdrängung wurde unterstützt durch wirtschafts- und währungspolitsche Maßnahmen. Für die vorläufig eingeführte "Polenmark" wurde die Zwangsparität zur deutschen Mark festgesetzt. Tatsächlich hatten einhundert Polenmark aber nur einen Wert von 42,50 deutschen Mark, wie sich nach Aufhebung der Zwangsparität zeigte. Die Enteignung des deutschen Kapitals um mehr als die Hälfte führte praktisch zur Enteignung der deutschen Hausbesitzer in den Städten.

Der deutsche Grundbesitz wurde durch verschiedene Zwangsmaßnahmen wie Liquidation (Enteignung), Einsetzen von Zwangsverwaltern und Preisdrückerei in polnische Hand gebracht. Allein von 1925 bis 1927 wurden 4.000 Güter liquidiert. Die Bestimmungen der polnischen Verfassung waren Rahmenvorschriften und konnten "suspendiert" werden, wenn das politisch für nötig gehalten wurde. Die Verwaltungspraxis bestand also weitgehend in der Verweigerung von Rechten. Begangenes Unrecht wurde häufig durch nachträgliche Gesetzesänderungen legalisiert. Mörder wurden freigesprochen, wenn der Ermordete ein Deutscher war. Entsprechend wurden Mißhandlungen von Deutschen kaum verfolgt.

In Lissa richtete sich die Pogromstimmung auch gegen Juden: "Schlagt Juden und Deutsche tot." In Ostrowo wurden deutsche Geschäfte und Wohnungen geplündert, die Besitzer mißhandelt. Die polnischen Arbeiter der Waggonfabrik erzwangen die Entlassung sämtlicher deutscher Arbeiter. Auch in Jarotchin kam es zu schweren Judenpogromen.

Das Wahlrecht wurde zuungunsten der Deutschen manipuliert. Deutschstämmige Gemeindevorsteher wurden durch Polen ersetzt, ebenso Dorfschulzen und Deichhauptleute. Schikaniert und verfolgt wurden auch die evangelische Kirche, ihre Geistlichen und Gemeindemitglieder. Kirchliches Eigentum wurde enteignet, evangelische Kirchhöfe und Grabmäler wurden verwüstet. Wo es deutsche Katholiken gab, wurden diese in die Verfolgungsmaßnahmen einbezogen.

Um den Schulbesuch deutscher Kinder in polnischen Schule zu fördern, wurde durch Veränderung der Schulbezirke die Bestimmung des Minderheitenschutzgesetzes umgangen, daß für mindestens vierzig deutsche Kinder eine deutschsprachige Schule einzurichten sei. Infolgedessen mußte ein Drittel bis die Hälfte der deutschen Kinder polnischsprachige Schulen besuchen.

Von 1,2 Millionen Deutschen blieben bis 1929 nur 350.000

Von den vor dem Kriege in Posen und Westpreußen lebenden 1,2 Millionen Deutschen verblieben Ende der zwanziger Jahre nur noch 350.000 in der alten Heimat. Mehr als 800.000 waren abgewandert. In den ländlichen Gemeinden und Gutsbezirken ging die Zahl der Deutschen um 55 Prozent zurück, in den Städten sogar um 85 Prozent. Graudenz verlor von 1920 bis 1931 18.800 deutsche Einwohner, Thorn von 34.000 Deutschen drei Viertel. Posen hatte 1910 mit 63.000 Deutschen mehr als 41 Prozent der Gesamtbevölkerung, 1931 keine drei Prozent mehr.

Die hier beispielhaft dargestellten Kampfmaßnahmen gegen das Deutschtum hat Rauschning in Einzelheiten vollständig beschrieben. Er hat das in großer Sachlichkeit getan, obwohl ihm das polnische Unrecht mit Sicherheit ans Herz griff. Sein Buch wurde gleichwohl von polnischer Seite als einseitig und tendenziös angegriffen. Die zeitgenössische deutsche Kritik teilte dagegen Rauschnings Selbsteinschätzung, er habe eine "trockene statistische und eher juristische als politische Analyse" vorgelegt. Theodor Schieder lobte die "umfassende Detailkenntnis" und das "ruhige Urteil", welches aus dem Buch spreche. Die Neue Züricher Zeitung schrieb 1931 zu Rauschnings Darstellung: "Es ist unschwer festzustellen, daß derlei Fälle alltäglich sind." Die von Rauschning verwendeten Zahlen sind später von den Osteuropahistorikern Gotthold Rhode und Walther Hubatsch im wesentlichen bestätigt worden.

Das zuweilen vorgebrachte Argument, die Abwanderung der Deutschen sei maßgeblich auf die hohe Zahl der Beamten zurückzuführen, weist Rauschning zurück, weil dieser Bevölkerungsteil samt Familienangehörigen und Bediensteten nach der Volkszählung von 1907 nur etwa zehn Prozent der ansässigen Deutschen betrug. Für die Masse der Deutschen war Posen und Westpreußen über Jahrhunderte die Heimat.

Herbert Bath war Landesschulrat in Berlin.

Fotos: Kaiser-Wilhelm-Straße in Lissa, Provinz Posen, um 1910: Vertreibungspolitik zwischen den Weltkriegen weitgehend in den Schatten getreten

Polen nach 1920: Nationale und ethnische Minderheiten als Resultat einer expansionistischen Außenpolitik nach dem Ersten Weltkrieg

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