Mit den guten Manieren und gepflegten Anzügen kam auch der Bildungskanon wieder in Mode. Die Kulturrevolution der späten sechziger Jahre, unter dem Motto „Kunst ist Scheiße, Bildung ist Mist“, ging weitgehend spurlos am deutschen Menschen vorüber wie manch andere Revolution zuvor. Ein Blick in die Feuilletons bestätigt diesen Eindruck. Immer noch wälzen sich da hysterisch deklamierende Phädren, Siegfriede, Hamlets und Iphigenien auf den Brettern; immer wieder versammeln sich entsprechend gekleidete Herrschaften, um Musik zu hören, die sie in- und auswendig kennen, und promovierte Kritiker kommentieren diese Ereignisse. Hat sich überhaupt etwas geändert? Nur beim Sex: Wenn eine Operndiva sich von den Maßen her nicht für eine Inszenierung in der Peep-Show eignet, hat sie künstlerisch kaum noch Chancen. Logisch: Wer will schon die tausendste Aufführung von „La Traviata“ sehen, wenn es nicht einmal einen nackten Schenkel dazu gibt? Das Interesse für Biologie wird offenbar immer größer, das Interesse für Kunst nimmt – trotz aller Rettungsversuche – ständig ab. Nicht jeder ist darüber betrübt. Einige Philosophen machen sich seit Jahrzehnten Sorgen über das Auseinanderdriften der „zwei Kulturen“, und wenn sie Glück haben, stimmt der eine oder andere Naturwissenschaftler ein. Der gebildete Mensch weiß, daß zu Zeiten des Aristoteles die Wissenschaft aus einem Grunde zu verstehen war, und daß selbst Goethe noch Naturwissenschaften ernsthaft betrieb – wenn auch nicht gerade mit überwältigendem Erfolg. Inzwischen nimmt man es für selbstverständlich, daß – wie der Biologe Richard Dawkins bemerkt – die „Geisteswissenschaften gelehrt werden, als ob es nie einen Darwin gegeben hätte“. Niemand wird auf die Kantsche Frage „Was ist der Mensch?“ antworten: ein Produkt der Evolution. Das gilt einfach als unfein. „Nicht falsch, aber das gehört nicht hierher“, würde der Lehrer sagen. Dawkins ist zuversichtlich, daß sich die Spaltung des Wissens schon in Kürze aufheben läßt. Was ihn zu dieser Hoffnung ermutigt, kann eigentlich nur die galoppierende Sexualisierung des Kulturlebens sein. Irgendwann werden Kritiker und wissenschaftliche Interpreten nicht mehr umhin können, die obszönen Bewegungen auf Leinwand und Bühne verhaltensbiologisch einzuordnen. Die Literaturwissenschaft ist immerhin schon so weit, sich hauptsächlich auf Freud zu stützen, der ursprünglich Mediziner war, und dessen Theorien vom Naturwissenschaftsglauben des 19. Jahrhunderts strotzen. Als nächstes kann nur Konrad Lorenz kommen. Es bedarf also gar keiner gutgemeinten Bücher wie „Die Einheit des Wissens“ von Edward Wilson. Über die „Dekonstruktion“ ihrer eigenen Ideale durch Pop-Philosophen und Schock-Regisseure kehrt die Kultur ganz von selbst zu Mutter Erde und Vaters Penis zurück. Auf daß zusammenwachse, was zusammengehört.