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Hilfen und Förderungen: Warum das Ifo-Institut an der Berechnung der Sozialleistungen scheitert

Hilfen und Förderungen: Warum das Ifo-Institut an der Berechnung der Sozialleistungen scheitert

Hilfen und Förderungen: Warum das Ifo-Institut an der Berechnung der Sozialleistungen scheitert

Sozialgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland. Die Sozialleistungen sind durch den Paragraphendschungel nicht mehr nachvollziehbar.
Sozialgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland. Die Sozialleistungen sind durch den Paragraphendschungel nicht mehr nachvollziehbar.
Das Sozialgesetzbuch: Gespickt von etlichen Paragraphen und Ausnahmsklauseln. Foto: picture alliance / CHROMORANGE | MICHAEL BIHLMAYER
Hilfen und Förderungen
 

Warum das Ifo-Institut an der Berechnung der Sozialleistungen scheitert

Was helfen soll, lähmt das System: Mehr als 500 Sozialleistungen, verstreut über Ministerien, Länder und Paragraphenwälder. Das Ifo-Institut warnt vor einem Sozialstaat, der an seiner eigenen Fürsorge erstickt.
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Wie viele Sozialleistungen bietet der deutsche Staat für wen an? Dies wollte das Münchner Ifo-Institut herausfinden, um so einen systematischen Überblick im „Haus der sozialen Hilfe und Förderung“ anzubieten. Im Juli hatte die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ der Managerin Julia Jäkel, der Ex-Minister Peer Steinbrück (SPD) und Thomas de Maizière (CDU) sowie des früheren Verfassungsrichtes Andreas Voßkuhle „etwa 170 Leistungen“ identifiziert.

Diese würden von fünf Bundesministerien verantwortet und von „fast 30 Behörden unter Verwendung unterschiedlicher Begrifflichkeiten verwaltet und in 16 Ländern mit 400 kommunalen Gebietskörperschaften teils unterschiedlich umgesetzt werden“. Diese sozialen Hilfen und Förderungen führten „nicht selten zu falschen Anreizwirkungen“. Die KI-gestützte Ifo-Untersuchung ergab sogar mehr als 500 Sozialleistungen, die vom Bürger einzeln beantragt werden können.

„Zahl und Umfang der Sozialleistungen in Deutschland scheinen außer Kontrolle zu sein“, kommentiert Andreas Peichl, Leiter des Ifo-Zentrums für Makroökonomik und Befragungen, das Ergebnis der Studie, die eigentlich als eine Orientierung für Forschung, Praxis und Politik dienen sollte. Der Konjunktiv ist wichtig, denn die Forscher haben ihre Arbeit erst einmal unterbrochen – denn sie sind an der Komplexität des Themas vorerst gescheitert. Die Unordnung im „Haus der sozialen Hilfe“, das über viele Jahrzehnte mit Steuermitteln errichtet und mit Paragraphen gefüllt wurde, können offenbar nur Entrümplungsfirmen beseitigen.

Aktuelle Sozialgesetzbücher umfassen 3.246 Paragraphen

„Ursprünglich wollten wir eine Quantifizierung aller Sozialleistungen erstellen“, beschreiben die vier Studienautoren ihr traumatisches Erlebnis: „In gewisser Weise erging es uns dabei ähnlich wie Asterix und Obelix auf der Suche nach Passierschein A38 im „Haus, das Verrückte macht!“. Die auf 46 Seiten im Ifo-Forschungsbericht 160 (10/25) aufgelistete Vielzahl an Vorschriften und Leistungen habe die Aufgabe, Ausmaß und Wirkung aller Sozialleistungen zu berechnen und Fehlanreize zu erkennen, als „beinahe unlösbar erscheinen“ lassen, so Studienleiter Peichl. Das Wörtchen „beinahe“ impliziert, daß sie einen zweiten Anlauf nehmen wollen, um die dringend erforderlichen Handlungsempfehlungen zur Ausmistung vorlegen zu können.

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Allein die Sozialgesetzbücher umfaßten 3.246 Paragraphen, die sowohl die Sozialleistungen selbst als auch die Regeln für die Umsetzung enthalten. Aber das ist nur ein Teil des bürokratischen Dschungels, der wohl einzigartig in der Welt ist. Denn es gibt weitere Gesetze, die weitere Leistungen begründen. Beispielhaft werden das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) von 1971, das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG/„Meister-BAföG“) von 1996, das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) von 2007 sowie das Gesetz über die Familienpflegezeit (FpflZG) von 2012 aufgeführt.

Dazu kommen noch länderspezifische Extras wie das 2018 eingeführte Bayerische Familiengeld. Im Rahmen des Bayerischen Familiengeldgesetzes (BayFamGG) gewährt der Freistaat allen Eltern mit Wohnsitz in Bayern für jedes Kind im zweiten und dritten Lebensjahr monatlich 250 Euro, ab dem dritten Kind sogar 300 Euro. Das von der CDU eingeführte Landeserziehungsgeld in Thüringen wurde hingegen 2015 von der ersten rot-rot-grünen Regierung unter Bodo Ramelow ersatzlos gestrichen. Nur in Sachsen blieb es für jene Eltern erhalten, die ihre Kinder nicht in die Kita abgeben wollen.

Inventarliste aller Leistungen auf Bundesebene erstellt

Die Ifo-Ökonomen wollten wissen, wie viele Bürger Anspruch auf die jeweilige Leistung haben, wie viele sie in Anspruch genommen haben, was es kosten würde, wenn alle Berechtigten sie in Anspruch nehmen würden und wie hoch der Verwaltungsaufwand bei den jeweils angebotenen Sozialleistungen ist. Aber auf keine dieser Fragen gibt es bislang Antworten. Die entsprechenden Daten sind bei den Behörden nicht abrufbar.

Von „erheblichen Defiziten“, spricht Ifo-Doktorandin Lilly Fischer. Aber „unsere Datenbank zu den Sozialleistungen ist ein erster Schritt zu mehr Transparenz im Sozialstaat.“ Wer Wohngeld und Kinderzuschlag beantragt und später noch Bürgergeld, müsse drei unterschiedliche Stellen aufsuchen, die untereinander keine Daten austauschen dürfen – was die Bürokratiekosten erhöht und zum Mißbrauch einlädt. Die Ifo-Wissenschaftler können nun immerhin eine „Inventarliste aller Sozialleistungen auf Bundesebene“ zur Verfügung stellen.

Sozialleistungen sollten nach britschem Vorbild pauschalisiert werden

Die Autoren garantieren dabei keine Vollständigkeit, sondern laden Experten und Interessierte dazu ein, Ergänzungen oder Korrekturen mitzuteilen. Die Leistungen für Bergleute oder Witwen seien „unglaublich detailreich“, beklagte Peichl im Focus: „Wenn Sie fünf, sechs Punkte hintereinander lesen, klingen die erstmal gleich. Nur ein Wort unterscheidet sich. Das ist dann aber jeweils eine andere Leistung, die beantragt werden muß.“ Für Kinder mit psychischen Erkrankungen muß etwa für jede Altersstufe eine andere Leistung beantragt werden.

Über die Jahrzehnte sei es zu einer „deutschen Einzelfallgerechtigkeitssuche“ gekommen, bei der immer wieder Beamte einen „schlauen Punkt“ dazugeschrieben hätten. „Der Sozialstaat wird zum bürokratischen Labyrinth, das sich selbst im Weg steht und selbst erfahrene Volkswirte ratlos zurückläßt – mit unklaren Kosten, Fehlanreizen und dringendem Reformbedarf“, konstatiert das Magazin Markt und Mittelstand.

Die systematische Bündelung der Leistungen hatte voriges Jahr der Normenkontrollrat (NKR) in seinem Gutachten „Wege aus der Komplexitätsfalle“ gefordert. Auch Peichl empfieht, die Sozialleistungen nach britischem Vorbild zu pauschalisieren und zu zentralisieren, anstatt auf unzählige Einzelfallregelungen zu setzen. Oder wie wäre es mit einer App, die mittels KI und regelmäßigen Updates den Überblick behält? Im Aktienhandel, bei Flugbuchungen oder im Steuerdickicht geht das doch auch.

Aus der JF-Ausgabe 44/25.

Das Sozialgesetzbuch: Gespickt von etlichen Paragraphen und Ausnahmsklauseln. Foto: picture alliance / CHROMORANGE | MICHAEL BIHLMAYER
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