Nicht nur nach Ansicht der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ist die Politik des Berliner Senats unsozial und unausgewogen. Doch die rot-rote Landesregierung ist gezwungen bis „zur Schmerzgrenze“ zu sparen, denn die Verschuldung des Landes liegt bei 45 Milliarden Euro – Tendenz steigend. In diesem Jahr wird der Landeshaushalt ein Primärdefizit von etwa 2,3 Milliarden Euro aufweisen. Für die Personalpolitik der Stadt bedeutet dies, daß auch die öffentlich Bediensteten Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Berlin hat daher beim Aufbrechen des Flächentarifvertrages im öffentlichen Dienst eine Vorreiterrolle übernommen. Das Land trat im Januar aus dem kommunalen Arbeitgeberverband aus. Auf die landeseigenen Betriebe wie Müllabfuhr und Verkehrsbetriebe wird Druck ausgeübt. Sie sollen dem Beispiel des Landes folgen. Auch die Unis und Fachhochschulen verließen mit einer Ausnahme den Arbeitgeberverband. Zu Jahresbeginn wurde daher fast täglich in der Stadt gegen die Sparpolitik demonstriert. Aber sind die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst wirklich so miserabel, wie Verdi beklagt? Im Zeitalter der Privatisierung und des Auslagerns von Arbeitsprozessen („outsourcing“) kann von einer Benachteiligung des öffentlichen Dienstes keineswegs gesprochen werden. Schon heute sind viele der ehemals hoheitlichen Aufgaben längst an private Dienstleister übertragen worden. Die Arbeitsbedingungen der dort Beschäftigten sind bestenfalls gleichrangig, in den meisten Fällen jedoch weitaus schlechter. Kasernen werden heutzutage oft von privaten Wachfirmen abgesichert statt von regulären Bundeswehrangehörigen. Und die Löhne, die in der Sicherheitsbranche gezahlt, rangieren zwischen fünf und sieben Euro in der Stunde! Zwölfstundenschichten sind ebenso üblich wie das „heuern und feuern“ à la Amerika. Dank neuer EU-Richtlinien soll auch im öffentlichen Personennahverkehr mehr Wettbewerb herrschen. Private Konkurrenten könnten demnächst Straßenbahnen oder Buslinien betreiben. Städtische Verkehrsbetriebe sehen schon jetzt eine neue Phase des „Lohndumpings“ kommen. Der Chef der Bremer Straßenbahn AG, Hubert Resch, fürchtet auch einen Qualitätsverfall, falls veraltete Fahrzeuge zum Einsatz kommen. Ein weiteres Beispiel für unerquickliche Folgen der „Liberalisierung“ der Wirtschaft kommt aus der Briefbranche. Zwar steckt der 1998 gestartete Wettbewerb auf dem Postmarkt noch in den Kinderschuhen, es existieren aber bereits mehrere private Postdienstleister. Der größte ist die Berliner Pin AG. Im Jahr 2000 machte das Unternehmen Schlagzeilen, als es die ersten privaten Briefmarken seit hundert Jahren herausgab. Die meisten der rund 750 Mitarbeiter sind als Zusteller tätig und tragen etwa 110.000 Briefe am Tag aus. In diesem Jahr hofft der Deutsche-Post-Herausforderer auf einen Umsatz von 30 Millionen Euro. Das Monopol der Deutschen Post AG ist noch bis ins Jahr 2007 gesichert. Dennoch dürfen Wettbewerber ins Briefpostgeschäft einsteigen, wenn sie höherwertigere Leistungen erbringen als der Monopolist. Die Pin AG holt die Post bei ihren Kunden ab und stellt sie am nächsten Tag zu. Der Pin-Standardbrief kostet nur 45 Cent – die Post verlangt 55 Cent. Bernhard Klapproth, Chef des Pin-Aufsichtsrats, läßt sich in der Berliner Presse zuweilen als erfolgreicher „New-Economy“-Firmengründer feiern – obwohl die Pin AG bislang nur rote Zahlen geschrieben hat. Dabei gehört zu den Großkunden sogar das Land Berlin. Dessen Finanzämter lassen ihre Post von der Pin AG zustellen. Die Arbeitsbedingungen werden von Pin-Mitarbeitern als miserabel dargestellt. Im Vordergrund steht dabei nicht einmal die Bezahlung. Ein Pin-Briefträger verdient 900 Euro im Monat brutto. Zusätzlich erhält eine Prämie, wer verschiedene Kriterien erfüllt: etwa das Tragen der Dienstkleidung oder das pünktliche Erscheinen. Unzustellbare Briefe schlagen sich hingegen negativ in der Lohnabrechnung nieder. „Marionettenveranstaltung des Vorstands“ Auch wenn die Verdi-Gewerkschafter dieses Lohnabrechnungssystem kritisieren, ist es nicht per se ungerecht. Leistung wird bei der Pin belohnt. Aber der persönliche Umgang mit den Pin-Mitarbeitern läßt zu wünschen übrig. David Steele, einer der Gründer und Mitinhaber der Pin AG, hat unterschiedliche Repressalien bei der Pin AG erlebt. Der Deutsch-Amerikaner war erst Aufsichtsrats- dann Vorstandsmitglied. Ein Kräftemessen innerhalb der Geschäftsführung führte zu seinem Ausscheiden aus dem Vorstand. Trotzdem arbeitete er als leitender Angestellter weiter bei Pin mit. Dann setzte das Mobbing ein – nach Abmahnungen folgte die fristlose Kündigung: Steele hatte einen anderen Beschäftigten privat angerufen und unter anderem die Gründung eines Betriebsrates vorgeschlagen. Als der angesprochene Kollege die Geschäftsführung informierte, blinkten dort die roten Lampen. Es folgte ein monatelanger Arbeitsgerichtsprozeß, den Steele in erster Instanz für sich entschied. Während des Berufungsverfahrens schlossen beide Seiten einen Vergleich. Steele: „Ich hatte einfach keine Lust mehr, mich weiter mit der Pin zu befassen.“ Inzwischen hatte die DHV (Organisation des Christlichen Gewerkschaftsbundes) versucht, einen Betriebsrat ins Leben zu rufen. Entsprechende Aufrufe an die Mitarbeiter wurden von der Geschäftsleitung entfernt. Zu einer Kooperation mit der Gewerkschaft war die Pin in keiner Hinsicht bereit. Statt dessen ließ die Unternehmensleitung die Angestellten ein Schreiben unterzeichnen, in dem sie sich gegen die Gründung eines Betriebsrates aussprechen. Den zehnprozentigen Krankheitsstand führt Steele auch auf den „psychischen Druck“ zurück, der bei Pin herrsche. Vor allem deswegen wollte er eine Arbeitnehmervertretung ins Leben rufen. Statt dessen seien die Beschäftigten permanenter Bespitzelung ausgesetzt. Da „werden die Mitarbeiter stasimäßig beobachtet“, berichtet ein Ex-Pin-Angestellter. Ein Briefzusteller etwa, der sich als Reservist für einen Bundeswehr-Auslandseinsatz gemeldet hatte, wurde regelrecht nach seinen Beweggründen verhört, schildert der Betroffene. Wer krank werde, müsse alsbald mit der fristlosen Kündigung rechnen, heißt es bei der Pin-Belegschaft. Nachdem der Betriebsrat von der Pin verhindert werden konnte, rief die Firmenleitung selbst ein solches Gremium ins Leben. „Eine Marionettenveranstaltung des Vorstands“ nennen Pin-Insider diesen Betriebsrat, der aus Vertrauten der Geschäftsführung besteht. Kevin Steele ist übrigens weiter im Geschäft. Er hat in Baden-Württemberg einen neuen privaten Postdienstleister gegründet. Und er sagt stolz von seinem Unternehmen: „Wir sind die ersten in ganz Deutschland, die Tariflöhne zahlen und Arbeitnehmerrechte auch würdigen.“ Die Kritiker an der Politik des SPD-PDS-Senats sollten sich weniger der moderaten Tarifpolitik des Landes widmen. Berlins hilflose Versuche, die Kosten zu senken, treffen nicht nur die eigenen Beschäftigten. Vielmehr wird Geld der öffentlichen Hand dazu verwandt, Privatfirmen mit Aufträgen zu versorgen, in denen Arbeitnehmerrechte massiv eingeschränkt werden. Hier hätte Verdi wirklich viel zu tun.