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Die verschobene Schamhaftigkeit

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Früher war der Mensch durch Aberglaube und Unvernunft in ein enges Gehäuse von Vorurteilen eingepfercht. Heute dagegen ist der Mensch durch Wissenschaft und Aufklärung befreit. So – oder so ähnlich – ist man seit der europäischen Aufklärung zu sprechen gewohnt. Diese Stimmung hat seit einigen Jahrzehnten namentlich in Deutschland eine ganz eigene Wandlung genommen. Bedeutete Aufklärung in früheren Zeiten, daß sich der Mensch seiner sozialen Bindungen bewußt werden und falsche durch richtige Urteile ersetzen möge, so heißt es heute eher, daß überkommene Bindungen überhaupt Vorurteile darstellen und überwunden werden müssen. Zwar wird von den Apologeten dieser Strömung behauptet, sie hätten dadurch das Menschenwesen befreit, jedoch drängt sich einem der Eindruck auf, daß diese neu gewonnene Freiheit in dem einen mit Unfreiheit in einem anderen Bereich erkauft wird. Als eine ihrer wichtigsten Errungenschaften betrachtet die heute herrschende Generation die sexuelle Revolution. Früher war hier unsere Kultur äußerst schamhaft. Vor noch nicht allzu langer Zeit wollten erwachsene Menschen eigentlich überhaupt nicht auf diesen Bereich zu sprechen kommen. Sexuelle Aufklärung von Kindern hieß beispielsweise konsequentes Ignorieren, solange es überhaupt nur irgendwie ging. Diese Hemmungen abzubauen war man in der Tat äußerst erfolgreich. Doch übersieht man für gewöhnlich, daß Sexualität sich nicht in ihrer bloßen Sinnlichkeit erschöpft. Darüber gibt es einen großen, transzendenten Bereich, der durchaus dieser Triebkraft zugeordnet werden muß. Es ist kein Zufall, wenn der überaus schamhafte Mensch der Biedermeier-Zeit in einem anderen Bereich ganz und gar nicht schamhaft war. Denn Begriffe wie „Ehe“, „Familie“, „Vaterland“ und „Nation“ beziehen sich schlußendlich auf den Menschen als ein geschlechtliches Wesen. Nichts provoziert die heutige Gesellschaft mehr – nichts bringt sie so zur Raserei – als etwas, was dem Europäer noch vor wenigen Generationen völlig selbstverständlich war: Die Unterteilung der Menschen in Rassen, den man Namen und Eigenschaften gab. Ebenso wie für uns heute die sinnliche Sexualität etwas völlig Natürliches darstellt und viele sie geradezu öffentlich-demonstrativ ausleben, galt dies früher im gleichen Maße von diesem transzendenten Bereich der Sexualität. Wie selbstverständlich und ohne Scheu, in aller Öffentlichkeit, sprach der Mensch der 1848er Revolution von seiner Beziehung zur Nation, wie er durch mannigfache Blutsbande sein eigenes Schicksal an das der Gemeinschaft geknüpft sah und auch knüpfen wollte. Der Mensch der 1968er Revolution ist in dieser Hinsicht allerdings seltsam schamhaft geworden. „Bedenklich“ findet er dies alles und wittert überall Entartung, wie man früher in den kleinsten sinnlichen Regungen Vorboten sexueller Perversion sah. Was als „politische Korrektheit“ heute den Menschen in seinem Verhalten dressieren, sein Denken und Fühlen maßregeln und kontrollieren will, entspricht in seiner Art jener überzogenen bürgerlichen Sexualmoral mit ihrer Furcht vor der Geschlechtlichkeit des Menschen. Eine Geschlechtlichkeit, mit der in Wirklichkeit auch sie – trotz gegenteiligen Getöses – nicht umgehen kann. „Geschlecht als soziale Kategorie“, heißt es dann ausweichend und „Sexismus“ ohne Ausnahme alles, was über diese inhaltslose Feststellung hinausgeht. Am stärksten zeigt sich die Umbesetzung in einem speziellen Bereich. Genügte in früheren, abergläubischen Zeiten der Verdacht, jemand treibe mit Dämonen Unzucht, um ihn dem geballten Vernichtungswillen der Gesellschaft auszuliefern, so gilt dies heute für eine andere Art von Dämonen. Nichts provoziert die heutige Gesellschaft mehr – nichts bringt sie so zur Raserei – als etwas, was dem Europäer noch vor wenigen Generationen völlig selbstverständlich war. Denn ebendieser Europäer der Neuzeit war es, der sich die Welt eroberte, über sie hinwegging und die Menschen, wo er sie fand, in Rassen unterteilte und ihnen Namen und Eigenschaften gab. Heute ist uns Europäern das furchtbar peinlich. Schon die simple Feststellung, daß es Menschenrassen gibt, wird von gesitteten Bürgern tunlichst vermieden. Wer doch nicht umhin kommt, bedient sich gequälter Umschreibungen und Kunstwörter, die ins Ungefähre laufen. Möglichst nicht zu genau werden, möglichst den anderen nicht als das charakterisieren, was er ist: ein Mensch von anderer Rasse. Wie verlegen, wie unangenehm berührt man heute doch ist, beginnt jemand von den verschiedenen Rassemerkmalen des Menschen zu sprechen! Ein Unbehagen unserer Kultur, welches nicht unterschätzt werden darf, kann es sich doch rasch als aufgestaute Wut entladen. Wer über die äußerlich-sinnlichen Merkmale hinaus noch qualitative Eigenschaften der menschlichen Rassen sieht und es wagt, diese auszusprechen – spätestens dann ist demjenigen die Aufmerksamkeit einer alles andere als liberalen, offenen und toleranten Gesellschaft sicher. Denn das Schwärzeste und Finsterste, was sich unsere Gesellschaft überhaupt nur vorstellen kann, ist es, die Menschheit nicht als homogene Masse, sondern qualitativ in Rassen gegliedert zu betrachten. Nicht ohne Grund umbrauste daher den Wissenschaftler J. Craig Venter Jubel aus aller Welt. Denn er und seine Mitarbeiter von der Celera Genomics Corporation stellten im Jahr 2000 eine Studie vor, der zufolge es gar keine menschlichen Rassen gibt. „Rasse“ sei eine optische Illusion, ein soziales Konstrukt. „Rasse“ existiere gar nicht, so wurde hier behauptet. Wer jetzt noch glaube, die Wirklichkeit anders wahrzunehmen, der habe sich eben selbst aus der zivilisierten Menschheit verabschiedet – so oder so ähnlich klang der weltweite Beifall. Nun, wissenschaftliche Studien gibt es viele. Beispielsweise die des Arztes Simon-Auguste Tissot von 1760, der zufolge Masturbation krankhaft sei und zu körperlichen Gebrechen führe – gleichfalls mit großem Jubel der zivilisierten Menschheit aufgenommen. In dem einen wie dem anderen Fall gilt: bloß nicht am Dunklen, Verborgenen rühren. Besser ein Verbot mit Zaun herum aufrichten, auf dem in großen Lettern zu lesen steht: Hier gibt es nichts zu sehen, bitte gehen Sie weiter. Doch was ist der Grund für diese zum Krankhaften sich neigende Entwicklung? Eigentlich ein Ereignis, welches in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. Seit der Neuzeit drängt sich ahnend eine Empfindung ins Bewußtsein unserer Kultur. Es ist das Gefühl, daß über alle Familienbande, über alle Volkszugehörigkeiten hinweg, über allen sozialen Klassen und Schichtungen stehend es einen Bereich geben muß, wo sich der Mensch ganz ohne Ausgrenzung als gleicher unter gleichen fühlen darf. „Es gibt kein schöneres Gefühl als die Sympathie, die uns anderen gleich setzt“ schrieb Wilhelm von Humboldt unter dem unmittelbaren Eindruck der Französischen Revolution: „Das Gefühl des Menschseins, der Gleichheit, der Verwandtschaft mit allen“ – hier drückt sich diese Sehnsucht aus. Doch eigenartigerweise hatte Humboldt keine Scheu vor dem Rassebegriff. So waren es doch gerade er und seine Zeitgenossen, welche begannen, die Menschheit nach ihren Abstammungslinien zu sortieren. War es Naivität? Erkannten diese Humanisten nicht, welche Unmenschlichkeit in ihren Überlegungen verborgen lauerte? Oder war es vielleicht etwas anderes? Für Humboldt und andere Vertreter des Deutschen Idealismus war eine Sache völlig selbstverständlich: Noch über aller Leiblichkeit sahen sie den Menschen als geistiges Wesen. Vor allem ist er ein geistiges Wesen: so dachten und fühlten sie. „Kurz, es wird in uns (…) ein innerer geistiger Mensch gebildet, der seiner eignen Natur ist und den Körper nur als Werkzeug gebrauchet.“ So spricht Johann Gottfried Herder in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, gleichwohl er eben hier seine Überlegungen zu den verschiedenen Menschenformen ausführt. Er konnte dies, weil er die uns umgebende Sinnenwelt nur als den Abdruck einer übergeordneten, geistigen Welt betrachtete. Diese Anschauung ist verlorengegangen. Heute läßt man einzig die äußere Welt gelten. Wer heutzutage noch behauptet, daß sich unser Leben nach einem geistigen Reich hin orientieren muß, an dessen Gemütszustand wird gezweifelt. Nur noch das Irdische, nur noch das Sinnliche ist Maßstab. Damit einher ging aber eine Anschauung, die auch den Menschen nur noch sinnlich begreifen wollte. Der Mensch ist nicht geistig, so sprach diese Anschauung, der Mensch ist nur ein Tier. Damit lebt aber die heutige Menschheit in einem Dilemma. Denn entweder sie akzeptiert, daß der Mensch ein Tier sei. Dann muß sie aber auch hinnehmen, daß er den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie ein Tier unterworfen ist. Das hieße beispielsweise, daß für ihn die gleichen Bluts-, die gleichen Rasseprinzipien gelten. Eine Anschauung, die Herder noch scharf zurückweisen mußte. Oder sie entlarvt diese Behauptung als dasjenige, was sie ist – als große Lüge. Denn der Mensch ist kein Tier; was in seinem Blut lebt, ist nicht bloß tierischer, sondern auch geistiger Natur. Doch dazu müßte die heutige Menschheit, die sich so überaus behaglich im Diesseits eingerichtet hat, den Geist als reale, wirkmächtige Kraft annehmen. Davor sträubt sie sich, sie will nicht von ihrer Weltanschauung lassen, in der der Geist nicht existiert. Was aber im Unbewußten lebt als dämmerndes Gefühl, das will die Menschheit behalten. So gesellt sie der ersten Lüge, daß der Mensch ein Tier sei, eine zweite hinzu: Platon meinte einst, die ideale Gesellschaft auf die prinzipielle Ungleichheit der Menschen gründen zu müssen. Da er aber von dieser eigentlich nicht so recht überzeugt war, glaubte er, die Menschen durch eine Notlüge zu dieser idealen Gesellschaft erziehen zu müssen: die Lüge, die Menschen seien von Geburt an ungleich. Die heutigen Menschen, die von einer idealen Gesellschaft träumen, glauben, diese nur verwirklichen zu können, wenn die Menschen tatsächlich im körperlichen Sinne allesamt gleich seien. Denn wenn es keine übergeordnete geistige Wirklichkeit gibt, dann kann sich ein Menschenrecht nur durch sinnliche Gleichheit der Menschen rechtfertigen. Darum vermeinen sie ein Axiom aufstellen zu müssen: die Behauptung, alle Menschen sind gleich. Es gibt kein Geschlecht, es gibt keine Rassen und Nationen, alles sind menschliche Erfindungen – so tönen die Apologeten dieser Anschauung. Und scharf gehen sie gegen jeden vor, der den Aberwitz dieser Behauptung aufzeigt. Ein Argument, mit welchem man dem Rassismus entgegentreten konnte, wird bald nicht mehr greifen: das der Unwissenschaftlichkeit. Denn die Wissenschaft wird die Anschauung von einer körperlichen Unterschiedslosigkeit als ebenso unwissenschaftlich entlarven. Grell und schrill klingen ihre Rufe, wenn jemand auf die Bindung des Menschen an seine Körperlichkeit hinweist. Nicht, weil sich hier eine gerechtfertigte Empörung über vermeintlichen Rassismus Bahn bricht. Sondern weil hier Menschen von dem ahnenden Gefühl gepackt werden, daß weniger ihre Vorfahren voller Vorurteile den verschiedenen Menschenrassen Eigenschaften zuschrieben, sondern sie selbst es sind: Sie selbst sind es, die sich weigern, ihre eigenen Ansichten zu durchdenken, zu hinterfragen, auf ihre Objektivität hin zu prüfen. Sie können, sie dürfen das nicht, denn tief in ihrem Innern kennen sie die Antwort. Sie wissen, daß sie die Unwahrheit sagen. Wie einst Platon, so glauben auch sie, für ihre ideale Gesellschaft zu einer Notlüge greifen zu müssen: Die Lüge, daß alle Menschen physisch gleich seien. Doch anstelle viel Kraft darauf zu verwenden, ein Lügengehäuse aufrechtzuerhalten, von dem dieser Teil der Menschheit glaubt, es für den Schutz des eigenen, inneren Gefühls zu benötigen, sollte sie sich lieber folgendes vergegenwärtigen: Die äußere Welt interessiert sich nicht für ihre Befindlichkeit. Sie schreitet voran und mit ihr die Naturwissenschaft. Ein Argument, mit welchem man dem Rassismus vergangener Tage in der Tat entgegentreten konnte, wird bald nicht mehr greifen – das der Unwissenschaftlichkeit. Denn schon heute ist die Wissenschaft dabei, jenes Instrumentarium zu entwickeln, mit dem sich äußere und auch innere Eigenschaften des Menschen kontrollieren lassen. Dann wird diese Wissenschaft, die nur gelernt hat, den Menschen als ein sinnliches Wesen zu betrachten, die Anschauung von einer körperlichen Unterschiedslosigkeit als ebenso unwissenschaftlich entlarven. Spöttisch wird sie Einwände zur Seite fegen, die dann hilflos von einer „Würde des Menschen“ stammeln, und sich daran machen, eine neue soziale Ordnung zu schaffen. Nicht so häßlich wie in der Vergangenheit, sondern so sanft und human wie möglich wird sie Menschen in Petrischalen selektieren, züchten und für ihre Aufgaben ausbilden. Niemanden wird es dann geben, der ihr Einhalt gebieten kann. Denn wenn es keinen Geist gibt, gegen wen sollte man dann sündigen? Fabian Schmidt-Ahmad ist Sozialwissenschaftler und lebt als Publizist in Berlin. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt „Der Staat und der Terror“ (38/07). Foto: Küssende Engel, Kunst­gewerbemuseum Berlin: Für die Vertreter des Deutschen Idealismus war eine Sache völlig selbstverständlich: Noch über aller Leiblichkeit sahen sie den Menschen als geistiges Wesen.

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