Ganz zweifellos die treueste Tochter der katholischen Kirche“, so beschrieb der irische Literat James Joyce eine der unverwechselbaren Eigenheiten, die mit der Kultur seiner Heimat verbunden werden. Das Christentum katholischer Prägung hat in Irland tiefe Spuren hinterlassen. Mit dem bis heute als Nationalheiligen verehrten Patrick – einem romanisierten Keltbriten – begann im 5. Jahrhundert die Christianisierung Irlands. Die neue Religion zivilisierte die durch Clankämpfe zerstrittene Insel. Aus Druiden wurden asketische Eremiten, die blühende Klöster wie Glendalough, Clonmacnoise und Monasterboice mit ihren charakteristischen Rundtürmen und monumentalen Hochkreuzen gründeten. Während das kontinentale Europa nach der Völkerwanderung ins dunkle Mittelalter zurückfiel, erhob sich Irland zur „Insel der Heiligen und Weisen“ mit „Priestern und Laien im Überfluß“. So entwickelte sich hier am atlantischen Rand Europas eine von der römischen Orthodoxie weitgehend unbeeinflußte naturverbundene, keltische Form des Christentums mit einer herausragenden Schriftkultur. Der Sonderweg des irischen Katholizismus Diese Epoche ging durch die Angriffe der Wikinger zugrunde, den Rest erledigte ab dem 12. Jahrhundert die Kolonisierung Irlands durch die Engländer, die dem religiösen Selbstverständnis der Iren einen unauslöschlichen Stempel aufdrückte. Die anti-katholischen Penal Laws von 1695, die irischen Katholiken grundlegende Rechte in ihrem eigenen Land verweigerten, und die katastrophale Große Hungersnot von 1845/49 führten schließlich zur Verschmelzung von religiöser und nationaler Identität der Iren. Hier wurde in den Iren in ihrer Heimat und der Diaspora das kollektive Bewußtsein geweckt, ein „auserwähltes Volk“ zu sein, dessen Glauben in der Unterdrückung durch die protestantischen Engländer einer göttlichen Prüfung unterzogen würde. Irisch zu sein wurde gleichbedeutend mit katholisch zu sein. Hierin wurzelt einer der Hauptgründe dafür, daß sich Iren nicht als „römisch-katholisch“, sondern in ihrem Sonderweg als „irisch-katholisch“ verstehen. Dementsprechend konnte die Kirche in dem unabhängig gewordenen Irland einen übermächtigen Status auch in weltlichen Angelegenheiten einnehmen. Bis 1970 hatte ihre „besondere Position“ gar Verfassungsrang, zum Leidwesen vieler Intellektueller, die wie der irische Nationaldichter W. B. Yeats die Einschränkung der künstlerischen Freiheit durch klerikalen Druck beklagten. Zu den ältesten Orten, die über die wechselvolle Zeit hindurch die traditionelle Volksspiritualität des irischen Katholizismus in die heutige Zeit tragen konnten, gehört die kleine Insel Station Island, auch St. Patrick’s Purgatory genannt, im Lough Derg, einem See im rauhen Nordwesten der Republik Irland. In Anlehnung an die 40 Tage, die der heilige Patrick hier verbrachte, findet auf der Insel eine regelmäßige Bußwallfahrt statt, die Pilgerschaft von Lough Derg. Anfang Juni, wenige Tage nach Beginn der Pilgersaison, durchläuft eine Gruppe von ungefähr 20 Pilgern die erste Station ihrer dreitägigen Pilgerschaft. Seit ihrer Ankunft auf der Insel gehen sie ausschließlich barfuß und haben um Mitternacht am gleichen Tag für die Dauer ihrer Pilgerschaft zu fasten begonnen, wie es die Vorschrift verlangt. In einer genauen Abfolge umrunden sie zuerst rechtsherum viermal die markante Basilika und beten dabei mit dem Rosenkranz das Vaterunser, das Ave Maria und das apostolische Glaubensbekenntnis. Danach begeben sie sich zu den Bußzellen, sechs runden Steinbetten, die sie betend mehrfach außen und innen rechtsherum ablaufen, jeder Kreisrhythmus jeweils unterbrochen von einer Gebetsreihe auf Knien. Schließlich erfolgt am Ufer im Gebet die Hinwendung zum Wasser. Kein Wort, kein Murmeln ist dabei zu hören. Es herrscht eine Stille, die allein von den Wasserwogen des Sees erfüllt ist. Diese mantra-artige Station werden die Pilger noch viermal an diesem Platz wiederholen – insgesamt gilt es neun Stationen zu absolvieren. Schwerste spirituelle Bußübung ist die Nachtwache Dieser Tag ist den Pilgern wohlgesonnen. Das Wetter ist sonnig, und eine kühle Brise vertreibt die lästigen Mücken, die einen ähnlich bösartigen Beitrag zum Bußprogramm leisten können wie der in Irland nicht unübliche harte Regen. Doch die schwerste spirituelle Bußübung ist zweifellos die Vigile, die Nachtwache, die als Höhepunkt eines 24stündigen Schlafentzugs gleich in der ersten Nacht auf der Insel in der Basilika abgehalten wird. Bis zur Morgenmesse umkreist die Pilgerschar die Rosenkranzgebete des Vorbeters echoartig reflektierend mehrfach rechtsherum den Saal, unterbrochen von Pausen, in denen man sich mit heißem Wasser, wahlweise versetzt mit Pfeffer und Salz – dem „Lough-Derg-Drink“ – wachhält und in Gesprächen gegenseitig gegen Hunger, Kälte und Müdigkeit bestärkt. Unter den Pilgern herrscht eine sehr kontaktfreudige, fast familiäre Atmosphäre. Die einzige während der dreitägigen Fastenzeit erlaubte Nahrung ist Haferkeks, trockener Toast und trockenes Brot. Einmal täglich darf der Pilger zusammen mit Kaffee oder Tee soviel von dieser weitgehend geschmacksfreien Kost essen, wie er will. Viele Pilger süßen sich das Brot mit Zucker. Erstaunlicherweise fühlen sich die meisten Pilger nach den drei anstrengenden Tagen besser als vorher. Die Schmerzen in den Knien und Füßen sind schnell vergessen. Die entgiftende Fastenkur und der Schlafentzug wirken sogar stimulierend auf den Körper. Viele berichten von einem wohltuenden Langzeiteffekt über die Pilgerfahrt hinaus. So frugal es auf dieser Pilgerschaft zugeht, ihre Beliebtheit unter den Iren ist ungebrochen. Ungefähr zehn- bis elftausend Pilger absolvieren sie jedes Jahr. Sie rekrutieren sich aus allen sozialen Schichten und Alterklassen. Sehr viele von ihnen sind „Wiederholungstäter“ und haben sie mehrfach – manchmal sogar weit über zwanzigmal und mehr – absolviert. Doch bei weitem überwiegen die Frauen. Auf einen Pilger kommen dreimal so viele Pilgerinnen. Darauf angesprochen antworten viele Pilgerinnen: „Männer sind fauler“ oder „Frauen können Schmerzen besser ab. Besonders irische Frauen“. Monsignore Richard Mohan, der Prior der Insel, hat für dieses Phänomen keine Erklärung und vermutet kulturelle Gründe. Frauen hätten ein besseres Gespür für das Religiöse. Auch wird der Glaube in den Familien traditionell über die Frauen vermittelt. Doch in den letzten Jahren habe sich der Anteil der Männer leicht erhöht. Sicherlich, so Mohan, sei Lough Derg eine der anstrengendsten Pilgerfahrten, aber auch eine der lohnenswertesten. Lough Derg gebe den Menschen etwas zurück, was in der westlichen Zivilisation verlorengegangen sei. Es sind die spirituellen keltischen Elemente der Wallfahrt, auf die Mohan anspielt: der direkte Kontakt mit der Erde durch das barfüßige Gehen, das wiederholte Laufen im Kreis, in dem sich ein immer wiederkehrendes altes Symbol der Kelten widerspiegelt – als Sinnbild des Kreislauf des Lebens -, die Hinwendung zum Wasser, einem für die Kelten sehr bedeutenden Stoff. Das Geheimnis der Pilgerschaft von Lough Derg, die eine echte Herausforderung und harte Erfahrung darstellt, ist nur schwer in Worte zu fassen. Für viele Pilger hat in den vergangenen Jahren der spirituelle Charakter der Wallfahrt noch vor der Buße Vorrang eingenommen. Oder sie suchen an diesem „Ort des Friedens, der Buße und des Gebets“ eine Auszeit vom Alltagsstreß. Andere wiederum wollen Gott für seinen Beistand in ihrem Leben danken, auf eine Weise, von der Mohan sagt, daß Handlungen lauter sprächen als Worte. Wie auch immer, die Pilgerschaft sorgt für eine mentale Belebung: „Wenn Sie zurückkehren, werden Ihre Probleme in der Welt immer noch da sein. Aber Sie werden sich gestärkt fühlen, ihnen zu begegnen“, wie zu Beginn der Vigile eine Nonne der Pilgerschar erklärt. Polen nehmen auf den leeren Kirchenbänken Platz Doch trotz des Zuspruchs, den Pilgerstätten wie Lough Derg erfahren, und obwohl sich heute fast 90 Prozent der Iren als Katholiken bezeichnen, scheinen die Zeiten, in denen Irland eine katholische Nation genannt werden konnte, unwiderruflich vorbei zu sein. Das frühere fast symbiotische Verhältnis von Kirche und Staat hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Einst undenkbar, sind Scheidung und Kontrazeptiva inzwischen legal und es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis auch Abtreibung als letztes gesetzliches Tabu durch eine Volksabstimmung freigegeben wird. Die Elite des Landes hat sich mit der vor rund 40 Jahren eingesetzten Säkularisierung des Staates weitgehend durchgesetzt. Skandale um pädophile Priester taten ihr übriges, um die Gläubigen von ihrer Kirche zu entfremden. Im Land herrscht ein eklatanter Priestermangel. „In Kürze ist Religion privatisiert und aus der öffentlichen Sphäre entfernt in einem post-christlichen Irland“, warnte unlängst ein Mitglied des irischen Oberhauses. Der irische Moraltheologe Vincent Twomey, der als Schüler von Joseph Ratzinger – dem heutigen Papst Benedict XVI. – in Regensburg studierte, hat über den gesellschaftlichen Wandel hinaus die tieferen Ursachen für „die allmähliche aber radikale Erosion des öffentlichen Gesichts und der Stimme der Kirche“ im säkularen Irland analysiert und ist in seinem 2003 erschienenen Buch „The End of Irish Catholicism?“ zu bemerkenswerten Schlußfolgerungen gekommen. Seine Schrift dürfte auch für die Kirchen im übrigen Europa mit ihren vergleichbaren Problemen von Interesse sein. In den Reformbeschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965), die er nur „im Wortlaut und nicht in ihrem Geist“ umgesetzt sieht, erkennt Twomey zwei bedeutende Punkte, die die irisch-katholische Kirche besonders trafen. Zum einen werfe die Erlaubnis, die einheimische Sprache als die der Liturgie zu verwenden, in Irland besondere Probleme auf. Die englische Sprache mit ihren dahinter verborgenen rationalistischen und utilitaristischen Denkmustern ist Twomey zufolge inkompatibel mit der Theologie. Das Englisch, das nach der Großen Hungersnot die irische Muttersprache Gälisch verdrängte, sei unter dem Einfluß des englischen Philosophen Thomas Hobbes „spirituell ausgetrocknet“. Twomey konstatiert: „Wir müssen noch unsere eigene göttliche Stimme finden.“ Zum anderen erschütterte das Konzil das exklusive Selbstverständnis der irisch-katholischen Kirche durch die Neuausrichtung des kirchlichen Verhältnisses zu den anderen christlichen Weltreligionen, die nun als Teil des christlichen Körpers angesehen wurden. Ohnehin sei angesichts des transnationalen Charakters der Kirche der irische Katholizismus weder irisch noch katholisch im eigentlichen Sinne und somit theologisch fragwürdig. Twomey rät seiner Kirche unter anderem, trotz des für sie feindlichen gesonnenen Umfeldes der irischen Medien offensiv ihre Positionen zu vertreten, auch gegen den Zeitgeist. In der wegen ihrer restriktiven Vorgaben zur Familienplanung umstrittenen Enzyklika „Humanae Vitae“ („Pillen-Enzyklika“) sieht er den kirchlichen Kontrapunkt zum beliebigen Werterelativismus der Moderne. „Was nötig ist, ist Prä-Evangelisation. Diskurs kommt später“, so Twomey. Desweiteren mahnte er die neue Etablierung von hochqualifiziertem theologischen Denken in der irischen Kirche an und hebt dabei die universitäre Theologie in Deutschland als Vorbild hervor. Für ihre Zukunft verspricht sich die irische Kirche viel von der massiven Zuwanderung aus Osteuropa, die neuerdings wie eine Frischzellenkur auf sie wirkt. In vielen Kirchen haben polnische Immigranten auf den von den Iren geräumten Kirchenbänken Platz genommen und beeinflussen das Gemeindeleben. Doch inwieweit hiernach diese katholische Kirche noch eine irische sein wird, ist eine Frage, deren Antwort noch aussteht. Die Pilgersaison auf Station Island im See Lough Derg geht von 1. Juni bis 15. August. Die Pilgerschaft steht Menschen aller Konfessionen offen, auch Nicht-Gläubigen! Eine Voranmeldung ist nicht nötig. Die Benutzung von Mobiltelefonen, Radios u.ä. ist auf der Insel untersagt, ebenso das Fotografieren. Der Verzehr von Kaugummi, nichtalkoholischen und alkoholischen Getränken ist nicht gestattet, ebensowenig der Verzehr von Nahrungsmitteln. Die Gebühr beträgt 45 Euro. Wer nicht zahlen kann, wird nicht abgewiesen. Weitere Infos: www.loughderg.org Lough Derg (Irland) Zu den ältesten Orten, die die traditionelle Volksspiritualität des irischen Katholizismus in die heutige Zeit tragen, gehört die kleine Insel Station Island, auch St. Patrick’s Purgatory genannt, im Lough Derg, einem See im rauhen Nordwesten Irlands. Fotos: Morgenandacht am See: Viel mehr Frauen als Männer; Pilger an der Basilika: Kontaktfreudige, fast familiäre Atmosphäre