Die Protokolle der Konferenz des EU-Ministerrats in Lissabon vom 18./19. Oktober spiegeln das öffentliche Unbehagen in den Mitgliedsstaaten wider, das in der Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags bei den Volksbefragungen in Frankreich und in den Niederlanden zum Ausdruck kam. Welch heilsamer Schock diese Ablehnung gewesen ist, zeigt der auf der Konferenz des Europäischen Rats in Lissabon vorgelegte „Entwurf eines Vertrags zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“. Der Titel verrät durch die umständliche Rückbeziehung bereits, wie ungern man zugibt, daß ganz offensichtlich etwas vorgelegt wird, das zwar auf frühere Konzeptionen und Verträge zurücklenkt – auf den Maastricht-Vertrag von 1992 und den Amsterdamer Vertrag von 1997 -, man den Verfassungsvertrag dagegen stillschweigend beerdigt. Die Querelen um Macht- und Stimmenverhältnisse der einzelnen Mitgliedsstaaten beiseite gestellt, sind es drei essentielle Punkte, denen unsere Aufmerksamkeit gelten sollte, da sie uns als Bürger unmittelbar betreffen. Das betrifft erstens die Grundrechte, zweitens das neu bestimmte Verhältnis der Mitgliedsstaaten zur EU und drittens das Justizwesen der Union, das heißt die Rechtsprechung und den Europäischen Gerichtshof. Beginnen wir mit dem ersten Punkt: Es ist zunächst positiv, daß viele ideologisch aufgeladene Gesetzesformulierungen beseitigt und durch klare Rechtsbegriffe ersetzt wurden. Erfreulich auch, daß die EU nach diesem neuen Vertrag eher einen föderalen Charakter als Staatenbund als den eines Bundesstaates erhalten würde. Gleichwohl hält man an der Unionsbürgerschaft fest (Art. 9a,2) und damit an den Grundrechten, wenn auch mit einem verzwickten und höchst problematischen Rechtsverständnis. Dabei kann man gegenüber dem Verfassungsvertrag einen Fortschritt in der Bestimmung derjenigen feststellen, die diese Grundrechte betreffen – nämlich die Unionsbürger. Gleichzeitig aber versucht man, die bedenklichste Sache damit doch noch zu retten: durch eine stillschweigende Einführung des „Grundrechte-Katalogs“. Der neue Art. 6 verweist auf die tatsächlich schon im Dezember 2000 verabschiedete „Charta der Grundrechte“. Die Charta erklärt die darin enthaltenen Grundrechte über eine Klausel, die auf eine noch anzupassende Fassung verweist, zugleich mit der Annahme des neuen Vertrags für gültiges Recht. Ein solches Verfahren rührt an die Grundfesten der Demokratie und des Rechtsstaates. Denn eine „Charta“ ist eine völkerrechtliche Vereinbarung von Staaten zur Regelung ihrer Angelegenheiten im Rahmen ihrer „Zuständigkeiten“. Diese aber erstrecken sich – was völkerrechtliche Verträge betrifft, bei denen die Einzelstaaten als juristische Personen gelten – nicht auf die Grundrechte. Die Annahme der Charta kann also mit der Annahme der neuen Verträge – selbst wenn diese durch die Parlamente der Mitgliedsstaaten verabschiedet worden sind – nicht stillschweigend auch diese „Grundrechte“ rechtsgültig machen. Ja, diese können überhaupt nur durch Volksabstimmungen in Geltung gesetzt werden, da sie in Wirklichkeit nicht – wie Absatz 3 des Art. 6 deklamatorisch behauptet – „sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten ergeben“. In Wahrheit erweitern sie sehr wohl die in den Verträgen selbst festgelegten Zuständigkeiten der Union, etwa in Art. 2 (Pluralismus) oder in Art. 21 (Recht auf Nichtdiskriminierung). Schon grundsätzlich lassen sich aus Pluralismus und Nichtdiskriminierung jedoch keine Grundrechte ableiten. Sie neben Freiheit und Gleichheit als „Werte“ einzuführen (Art. 2), bedeutet, Schlagworte mit vagen Assoziationen als Grundrechte aufzunehmen. Überhaupt ist der Wertbegriff für diesen Bereich völlig untauglich, denn „Werte“ sind eingewöhnte und tradierte Verhaltensmuster, die nur wirklich sind, wenn sie beständig ausgeübt werden. Sie können nicht wie die den Menschenrechten zugrunde liegenden Ideen gefördert, sondern nur erhalten werden. Darüber hinaus Werte durch Grundrechte einzuführen, wie insbesondere in Art 23,2 (Diskriminierung), widerspricht der inneren Logik eines Grundrechtekatalogs. Es geht nicht an, „Begünstigungen“ von benachteiligten Gruppen einfach gegen jede Logik als nicht widersprüchlich zu deklarieren. In einer Demokratie bleibt das Volk immer der eigentliche Souverän, insofern es immer Herr seiner unveräußerlichen Rechte bleibt. Mit der Festlegung von Grundrechten jedoch werden Vollmacht und Zuständigkeit der Regierungen der Mitgliedsstaaten überschritten, da diese durch die Grundrechte auch über die „unveräußerlichen Rechte“ und ihre spezifische Anwendung entscheiden würden. Grundrechte werden nach der herrschenden Lehre allein aus den Menschenrechten gerechtfertigt, die eben selber „unveräußerlich“ sind. Grundrechte sind Schutzrechte (so auch Art. 52,3 des neuen Vertragsentwurfs), die aus der spezifischen Erfahrung der Einzelstaaten in geltendes Recht umgesetzt worden sind. Sollten neue, darüber hinausgehende Grundrechte aus den Menschenrechten für die Europäische Union verbindlich entwickelt werden, so bedarf es dazu einer Volksabstimmung. Schlauerweise wurde diese mit dem Fremdwort „Referendum“ belegt, um die grundlegende Bedeutung dieses Rechtsaktes zu verschleiern und eine solche Befragung als juristische Haarspalterei erscheinen zu lassen. Jetzt versucht man, das mit einer Einbindung in die parlamentarische Verabschiedung der neuen EU-Verträge zu umgehen, die jedoch – wie gesagt – für die Grundrechte nicht ausreicht. Das kommt dem Tatbestand einer arglistigen Täuschung nahe. Ähnliches versucht man bei der zweiten zentralen Frage. Der neue Vertragsentwurf, der im Dezember dieses Jahres durch den Europäischen Rat verabschiedet werden soll, spricht nach wie vor von den „Zuständigkeiten“ der Union. Diese unterscheiden sich nach „alleinigen“ und „geteilten“ sowie bei den Einzelstaaten verbleibenden Zuständigkeiten. Was so harmlos als „Zuständigkeit“ daherkommt, bedeutet das Aufgeben von Souveränität der Mitgliedsstaaten. Der Begriff der „Souveränität“ taucht in der deutschen Fassung nicht auf. Die Rede von den „Hohen“ Vertretern, wie etwa beim europäischen Außenminister, gibt diesen Begriff zwar inhaltlich wieder, sucht damit aber zugleich den Institutionen eine besondere Autorität zu geben. Die Souveränität verbleibt jedoch in der Demokratie immer beim Volk, und Regierungen und Gerichte, ja selbst die Volksvertretungen (Parlamente), handeln hier nur im Namen des Volkes. Wieweit „Zuständigkeiten“ abgegeben werden können, hängt davon ab, wie weitgehend die Rechte auch nationale Grundrechte berühren (bei geteilter Zuständigkeit) oder auf internationale, hier europäische Interessen und Verpflichtungen zurückgehen (alleinige Zuständigkeit der Union). In diesem Bereich werden die neuen Vertragsentwürfe den sachlich berechtigten Ansprüchen der Mitgliedsstaaten und den notwendig zu regelnden gemeineuropäischen Interessen weit mehr gerecht als der Verfassungsvertrag. Nicht nur erhalten die Mitgliedsstaaten ein Austritts- und Änderungsrecht, auch die spezifischen nationalstaatlichen Gegebenheiten und Selbsterhaltungsinteressen finden durch klare Verfahrensregeln – wenn auch mit unterschiedlichem Quorum – Berücksichtigung. Das war freilich der Preis für den Verzicht auf Einstimmigkeit der Entscheidungen des Ministerrats. Problematisch wird dieses Verfahren bei der Gesetzgebung. Endlich soll auch die demokratische Mitwirkung des Europäischen Parlaments verankert werden, das neben dem Ministerrat alle Gesetze verabschieden und bei Verordnungen mindestens unterrichtet werden muß, wenngleich es nach wie vor selbst keine Gesetzesanträge einbringen darf. Die Problematik hängt an dem Gebrauch des Begriffes „Subsidiarität“ – ein weiterer Versuch der Politik, durch Einführung juristischer Fachbegriffe den Bürgern die Bedeutung ihrer Rechte zu vernebeln. Nach dem Subsidiaritätssatz müßte man davon ausgehen, daß die gesetzlichen Regelungen, die von den übergeordneten gemeineuropäischen Werten ausgehen und von der Europäischen Union verabschiedet werden, nur Grundsätze beschließen dürfen, während ihre spezifische Fassung bei den Einzelstaaten verbleibt, die darin ihre traditionellen Werte zum Ausdruck bringen. Der Verfassungsvertrag hatte das aber so ausgelegt, daß ein Rechtsgrundsatz der größeren Einheit – also der EU – grundsätzlich dann aufgestellt werden darf, wenn das Recht der untergeordneten Rechtseinheit – hier der Mitgliedsstaaten – keine derartigen Bestimmungen enthält, aber auch dann, wenn sie „besser“ auf zentraler Ebene geregelt werden könnten. Der neue Vertragsentwurf sah das noch ebenso vor. Im Protokoll über die Abgrenzung der Zuständigkeiten wird jetzt bekräftigt, daß alle nicht an die EU übertragenen Zuständigkeiten grundsätzlich bei den Mitgliedsstaaten verbleiben. Hier hat die Konferenz von Lissabon tatsächlich einen Durchbruch gebracht und erklärt, daß Verträge über die Zuständigkeiten sowohl geändert wie ausgeweitet, verringert, ja selbst aufgehoben werden können. Es erscheint als Schritt zur richtigen Auslegung, die Subsidiarität sei so „besser sicherzustellen“. Diese gestärkte Souveränität der Mitgliedsstaaten gegenüber ihrer Stellung nach dem Verfassungsvertrag eröffnet bei der „geteilten Zuständigkeit“ jetzt sogar die Möglichkeit, Gesetze der EU wieder aufzuheben, wenn sie etwa dem Grundgesetz des Mitgliedsstaates widersprechen. Dieses Ergebnis wird allerdings wieder entwertet durch die diplomatisch vage Formulierung der Kommission, sie wolle diese Änderungen bzw. Aufhebungen von Rechtsakten in Erwägung ziehen – womit sie keine Änderung ihrer Praxis zusagt, sondern alles offenläßt. Freilich, größere Rechtssicherheit wäre damit erst dann verbunden, wenn es – drittens – gelänge, auch das Justizwesen in eine angemessene Verfassung zu bringen. Hier wurden zwar auch Demokratie-Defizite ausgeglichen. Was hingegen die möglichen Klagen gegen die Rechtsakte der Union betrifft, so sind nach wie vor Immunisierungsmaßnahmen vorgesehen, diese einzuschränken. Es bleibt zwar die bereits herausgestellte Möglichkeit der Änderung oder Aufhebung von Rechtsakten, aber sie verbleibt nur den Institutionen der EU selbst. An dieser Stelle taucht ein grundsätzliches Mißverständnis des Verhältnisses internationaler und nationaler Gerichtsbarkeit auf. Alle geltenden einzelstaatlichen Rechtsgrundsätze überschreitend, hat der Europäische Gerichtshof einfach den Vorrang des EU-Rechts vor allem einzelstaatlichen Recht erklärt. Dagegen hatte sich auch das deutsche Bundesverfassungsgericht gewehrt: Es hatte von einer „vom geltenden Verfassungsrecht nicht gedeckten Rechtssetzung“ gesprochen (BVerG 89,155 (209)). Dieser Vorgang ist in der internationalen Rechtsprechung überhaupt zu erkennen. Insbesondere werden die Unterschiede des rechtlichen Geltungsstatus einer Konvention, einer Deklaration, einer Charta und eines völkerrechtlichen Vertrags zunehmend vernachlässigt. In Art. 7 des Vertragsentwurfes heißt es wie gehabt: „Die Union strebt den Beitritt zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte (…) an.“ Sie ist ihr also tatsächlich noch nicht einmal mit den Verträgen beigetreten. Eine Konvention ist jedoch eine völkerrechtliche Vereinbarung, die ein Staat bereits angenommen haben muß, wenn sie gelten soll. Sie ist darüber hinaus nur eine rechtliche Absichtserklärung. Wird dagegen eine Klage aufgrund einer Konvention angestrengt, so bedeutet das zwangsläufig, auf moralische Grundsätze zurückzugreifen und ihnen schon rechtlich verbindliche Geltung zuzubilligen. Eine solche „notwendig mögliche Geltung“ der Menschenrechte (Jürgen von Kempski) soll mittels Verallgemeinerungsmöglichkeit für alle Menschen bereits eine rechtliche Verpflichtung hervorbringen, die auch vor völkerrechtlichen Verträgen rangiert. Das kann jedoch allein für die Anklage gelten, die dann nach völkerrechtlichen Verträgen gemäß dem Grundsatz nulla crimen sine lege über die einzelstaatlichen Instanzen verfahrensgemäß abgehandelt werden müssen. Das geschah sowohl bei den Nürnberger Prozessen als auch bei dem Verfahren gegen den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Miloević. Die Ausdehnung der Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofes auf zivilrechtliche und strafrechtliche Tatbestände hat bisher keine rechtsstaatliche Legalität. Ursprünglich wurde lediglich die Regelung völkerrechtlicher Vertragsdifferenzen und Verletzungen der Montanunion und Europäischen Atombehörde einer eigenen Justizbehörde übertragen, aus der dann eine eigene europäische Behörde wurde. Jedoch fehlt die Rechtsgrundlage, deren Befugnisse auszudehnen und ihr die Funktionen einer höchstrichterlichen Instanz zuzuweisen. Der neue Vertragsentwurf folgt im Unterschied zum Verfassungsvertrag dem richtig verstandenen Subsidiaritätsprinzip, womit die Ausdehnung der Kompetenzen des Gerichtshofes hinfällig ist, mindestens bis zu einer Ratifizierung der Verträge durch die Mitgliedsstaaten. Hier bestehen noch rechtliche Möglichkeiten zur Änderung. Der neue Entwurf, wie er in Lissabon verabschiedet wurde, gesteht den Mitgliedsstaaten auch hier ein Verweigerungsrecht zu (Art. 69e,3). Aufhorchen läßt auch, daß die Maßnahmen zum Familienrecht – zwar eingeschränkt auf grenzüberschreitende Bezüge – dem EU-Parlament nur ein Anhörungsrecht zubilligen (Art. 69d,3), während diesem und dem Ministerrat in anderen Bereichen die Gesetzgebung zur Angleichung zusteht. Wiederum eine Stärkung des föderativen Gedankens! Was die wirtschaftsrechtlichen Bestimmungen anbetrifft: Der Grad der Regulierung ist inzwischen so hoch, daß sich die freie Marktwirtschaft zwangsläufig in eine Planwirtschaft verwandeln wird, mindestens was den Arbeitsmarkt anbetrifft (vgl. Art. 69b). Prof. Dr. Klaus Hammacher lehrte Philosophie an der Technischen Hochschule Aachen. Zu seinen Arbeitsgebieten gehört neben dem Deutschen Idealismus auch die Rechtsphilosophie. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (JF 8/07).
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