In JF 41/06 hatte der Aachener Philosoph Klaus Hammacher im Anschluß an Kant und Fichte für eine rechtlich-ethische Doppelbestimmung des Freiheitsbegriffs plädiert. Ihm antwortete in JF 48/06 der Potsdamer Historiker Heinz Odermann, indem er anhand ausgewählter Beispiele darauf hinwies, daß individuelle Freiheit immer auch staatlich verbürgt sein muß. Im folgenden Beitrag nun verbindet der Erlanger Jurist Karl Albrecht Schachtschneider beide Positionen, indem er einerseits an der von der kritischen Philosophie Kants herkommenden rechtlich-ethischen Doppelbestimmung der Freiheit festhält, deren Wahrung aber zugleich als Aufgabe des Staates, namentlich der Republik, beschreibt. (JF) Wer die Europapolitik unserer Politischen Klasse verfolgt, kann nur zu einem Schluß kommen: Die Politik entfernt sich mehr und mehr vom Recht. Das ist besorgniserregend, denn erst durch seine Rechtlichkeit verwirklicht ein Staat seine Freiheit. Der Grund für die Rechtsferne der Politik liegt – wie eh und je – in den verschiedensten Interessen ihrer Akteure, vor allem in Herrschsucht, Habsucht und Ehrsucht. Eine solche Rechtlosigkeit ist nur möglich angesichts einer fast alles politische Handeln deckenden Rechtsprechung. Aber auch durch eine problematische Rechtslehre, die wegen eines fehlenden menschheitlichen Rechtsbegriffs, der auf der Freiheit jedes Menschen gründet, erneut in einen Rechtspositivismus abgesunken ist: Alles und jedes, was Politiker beschließen, internationale Verträge zumal, wird mittlerweile als „Recht“ anerkannt. Recht aber kann seit der Aufklärung nur als die Wirklichkeit der allgemeinen Freiheit beschrieben werden. Allgemeine Freiheit ist Gleichheit in der Freiheit, und diese ist ohne Brüderlichkeit bzw. Solidarität nicht lebbar. Liberté, Égalité, Fraternité sind nicht nur die Leitideen der Französischen Revolution, sondern zugleich das Weltrechtsprinzip der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. In deren Artikel 1 heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Dieser Text formuliert das Freiheitsprinzip als Grundlage des Rechts – und ist damit gut kantianisch. In der Praxis freilich wurde ein gänzlich anderer, nämlich der liberalistische Freiheitsbegriff umgesetzt. Dieser Liberalismus versteht die Ausübung der Staatsgewalt als Herrschaft – und die grundrechtlichen Freiheiten gewissermaßen als Abwehrrechte gegen diese Herrschaft, also als Rechte der Untertanen gegen die Obrigkeit. Daß politische Freiheit jedoch kein Abwehr-, sondern ein Grundrecht darstellt und das demokratische Prinzip ein Verfahrensprinzip der Freiheit ist, wird nicht gesehen. Im Hinblick auf die Demokratie läßt man sich an unmittelbaren Wahlen der Abgeordneten und an der daraus abgeleiteten mittelbaren Legitimation genügen. Dabei ist der Einfluß der Wähler wegen des faktischen Nominationsmonopols der Parteien gering, ganz abgesehen von den Einwirkungen des Verfassungsschutzes auf die Parteien und deren Defizit an innerer Demokratie. Die Gleichheit der Wahlen wird zudem durch die Sperrklauseln beeinträchtigt. Die Wahl zum Europäischen Parlament ist sogar „degressiv proportional“, das heißt die Sitzverteilung orientiert sich nicht an den Bevölkerungszahlen der Mitgliedsstaaten und ist mithin extrem ungleich. Der Parteienstaat, typische Verfallserscheinung der Republik, gilt als einzig realistische Form der Demokratie. Aber freiheitlich ist die Parteiendemokratie nicht. Freiheit ist die Würde des Menschen. Sie ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Freiheit verbietet jede Art von Herrschaft. Das wollen die, die die Herrschaft erobert haben, nicht in Frage gestellt sehen. Würde der aufklärerische Freiheitsbegriff verwirklicht, wäre diese Herrschaft beendet. Dementsprechend ist es nicht opportun, diese Freiheit zu verstehen und zu lehren. Ihre Verwirklichung wäre revolutionär – und die Revolution eine Befreiung zum Recht. Der liberalistische Freiheitsbegriff versteht die Ausübung der Staatsgewalt als Herrschaft und die grundrechtlichen Freiheiten als Abwehrrechte gegen diese Herrschaft. Daß politische Freiheit kein Abwehr-, sondern ein Grundrecht darstellt, wird nicht gesehen. Freiheit ist als äußere, negative Freiheit Unabhängigkeit von nötigender Willkür (Kant), als innere, positive Freiheit ist sie Sittlichkeit. So verstanden, hat Freiheit durchaus auch ein Gesetz, nämlich das Sittengesetz, Kants berühmten kategorischen Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Demnach ist es verboten, andere Menschen zum Mittel eigener Zwecke zu machen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich diese Formel mehrfach zu eigen gemacht. Artikel 4 der Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789 formuliert dieses menschheitliche Prinzip: „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet.“ Was aber schadet oder nicht schadet, können nur Gesetze bestimmen, die (nach Kant) nichts anderes sind als der „Ausdruck des allgemeinen Willens“. Zur Freiheit gehört also der gesetzgebende Wille, die politische Freiheit. Frei ist demnach nur, wer seinem eigenen Willen gehorcht. Folglich kann die Freiheit aller nur unter Gesetzen aller Wirklichkeit werden. Nur eine solche allgemeine Gesetzgebung wäre demokratisch. Die freiheitliche Gleichheit und damit das allgemeine Wohl verwirklichen sich in den allgemeinen Gesetzen. Ein Staat mit einer derartigen allgemeinen Gesetzgebung heißt Republik. Die Bürger können aber nur zur allgemeinen Gesetzgebung finden, wenn jeder das Sittengesetz achtet, wenn jeder sich um praktische Vernunft bemüht. Diese Sittlichkeit ist die Materie der Gesetze, die als allgemeiner Wille Verbindlichkeit für alle besitzt, ohne daß jemandem Unrecht geschieht. Die Triebfeder, zu dieser Sittlichkeit zu finden, ist der gute Wille zum gemeinsamen Leben, in dem niemandem geschadet wird, zum Leben in Gerechtigkeit, zum Leben in Freiheit. Die richtige Politik setzt die Erkenntnis der Wirklichkeit als der Wahrheit voraus. Man kann sich zwar irren, aber man darf nicht andere täuschen. Vor diesem Hintergrund muß jeder um größtmögliches allgemeines Wissen bemüht sein. Schon deswegen ist Desinformation der Öffentlichkeit eine Verletzung der Freiheit und der Würde. Die Parteienoligarchie herrscht vornehmlich mittels Propaganda – das wird besonders in der Europapolitik sichtbar. Freiheitlich und demokratisch dagegen wäre ein Diskurs um Wahrheit und Richtigkeit, in den die Öffentlichkeit einbezogen ist. Das ist zugleich die große Aufgabe der Medien. Die allgemeinen Erkenntnisse werden als Gesetze beschlossen. Dabei ist die Mehrheitsregel unverzichtbar, sei es bei Abstimmungen des Volkes – in Schicksalsfragen verfassungsgeboten -, sei es bei Abstimmungen in den repräsentativen Organen des Staates, Parlamenten, Regierungen, aber auch Gerichten. Das ist kein Mehrheitsprinzip, das es rechtfertigen würde, daß die Mehrheit die Minderheit beherrscht oder unterdrückt, sondern eine Entscheidungsregel bei unterschiedlichen Meinungen. Diese Regel ist nur tragfähig, wenn alle sich um Erkenntnis bemüht haben, also in innerer Freiheit und Sittlichkeit Politik machen. Rousseau hat erkannt, daß die in der Abstimmung unterlegene Minderheit das wolle, was die Mehrheit beschließt, nämlich den Gemeinwillen, das Gesetz. Dementsprechend ist die Freiheit in Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz durch das Sittengesetz definiert. Recht verstandene Freiheit erfordert außer der skizzierten Rechtlichkeit der Gesetze auch die Gesetzlichkeit des Handelns. Der Leitsatz der Moralität: „Handle pflichtmäßig, aus Pflicht“ (Kant), erlaubt keinerlei Ausnahmen von der Legalität, sofern die Gesetze dem Recht genügen. Wenn die Gesetze Unrecht sind, ist der Bürger verpflichtet, sich um das Recht zu kümmern. Das gehört zur politischen Freiheit. Wenn anders das Recht wiederherzustellen nicht möglich ist, weil der Staat in falsche Hände geraten ist, bleibt nur das Recht – und die Pflicht – zum Widerstand (Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz). Wer die Gesetze mißachtet, muß konsequent zur Gesetzlichkeit gezwungen werden. Ein solcher Zwang folgt aus dem Freiheitsprinzip selbst und ist nicht etwa Herrschaft, sondern dient der Wirklichkeit der Freiheit (Kant). Der Gesetzgeber – das Volk oder dessen Vertreter – gibt die Gesetze, die Verwaltung vollzieht die Gesetze, und die Rechtsprechung klärt, ob das Handeln den Gesetzen entspricht, vor allem im Streitfall. Die klassische Gewaltenteilung ist nach aller Erfahrung notwendig, um der Tyrannis vorzubauen. Sie ist ein Baustein des freiheitlichen Staates. Die europäische Integration hat die Gewaltenteilung und die Demokratie überhaupt beschädigt. Die Exekutive (vollstreckende Gewalt) übernimmt mittlerweile die Aufgabe der Legislative (gesetzgebende Gewalt), und der Europäische Gerichtshof ist mangels demokratischer Legitimation überhaupt kein Gericht, das im Namen eines Volkes Recht sprechen könnte. Das sogenannte Europäische Parlament ist mangels egalitärer Wahl kein Parlament und vermag die Rechtsetzung der Union nicht zu legitimieren. 85 Prozent der Gesetze, nach denen die Menschen in den Mitgliedstaaten leben müssen, sind jedoch politische Ausflüsse der Brüsseler Bürokratie. Die landauf, landab etablierte Staats- und Staatsrechtslehre ist immer noch Herrschaftslehre. Sie muß endlich zur Freiheitslehre werden. Zur Herrschaftslehre gehört der liberalistische Freiheitsbegriff. Dieser kennt kein Grundrecht politischer Freiheit und lehrt die Republik nicht als politische Form der Freiheit. Vielmehr sollen einzelne Freiheitsrechte oder Grundrechte den Menschen einen gewissen Freiheitsraum gegenüber der Herrschaft des Staates geben. Dieser Liberalismus, der im Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts seine Richtigkeit hatte, aber durch die (verfassungsdogmatisch übersehene) Revolution von 1918 seine Grundlage, das monarchische Prinzip, verloren hat, unterscheidet den herrschenden Staat von der freien Gesellschaft. Er sieht die Freiheit nicht durch Gesetzlichkeit verwirklicht, sondern die verschiedenen Freiheiten durch Gesetze und deren Vollzug eingeschränkt. Die Freiheit sei desto größer, je weniger Gesetze es gebe. Ohne freiheitliche, demokratische Gesetzlichkeit herrschen die Starken, die multinationalen Unternehmen usw. Jede Privatisierung staatlicher Aufgaben, etwa der Daseinsvorsorge (Energie, Verkehr usw.), ist ein Verlust politischer Freiheit. Die durch die europäische und globale wirtschaftliche Integration veranlaßten Deregulierungen werden indes unter dem Motto „Mehr Freiheit wagen“ propagiert. Das ist abwegig, denn nicht nur das Sozialprinzip wird dabei vernachlässigt, sondern die Allgemeinheit der Freiheit. Ohne freiheitliche, also demokratische Gesetzlichkeit herrschen die Starken, die multinationalen Unternehmen usw. Mit den Deregulierungen geht der demokratische Einfluß der Völker auf die Politik, also auf ihr Leben verloren. Jede Privatisierung staatlicher Aufgaben, etwa der Daseinsvorsorge (Energie, Verkehr usw.), ist ein Verlust politischer Freiheit. Freilich gibt es ein Privatheitsprinzip, das aus den Grundrechten, insbesondere dem Recht auf Eigentum erwächst. Dem Menschen muß das größtmögliche Recht bleiben, sein Glück allein zu bestimmen, weil er es nur allein bestimmen kann. Zu dieser Selbstbestimmung gehört allerdings die Selbstverantwortung. Die Staatlichkeit oder Privatheit der Lebensbewältigung ist eine Frage der Alltagspolitik, aber keine Frage der Wirtschaftsideologie, wie der des Neoliberalismus, der dem demokratiewidrigen Freiheitsbegriff erwachsen ist. Nicht die Grundfreiheiten des Marktes dürfen dem Staat die Aufgaben verwehren, sondern der allgemeine Wille des Volkes ist es, der dem Privatheitsprinzip gerecht werden muß. Die Wettbewerbsideologie vermag die Entrechtlichung der Lebensverhältnisse durch das globale Marktprinzip dagegen nicht zu rechtfertigen. Die weltweite Kapitalverkehrsfreiheit, das Herzstück des internationalen Kapitalismus, macht es sogar möglich, den Völkern diejenigen Unternehmen zu entwinden, von denen die Menschen leben und in denen sie Arbeit finden. Die einzig demokratische Lösung läge demnach darin, die Unternehmen der Staatsgewalt der Völker zu unterstellen. Freiheit läßt sich nur in einem Staat verwirklichen, der seine Gebietshoheit behauptet, weil es keine internationalistische Demokratie gibt, zumal Großstaaten zur Demokratie nicht fähig sind. Zur Freiheit als der Fähigkeit gehört das Eigentum als die Möglichkeit zu handeln. Eigentum ist aber keine Freiheit. Während die Freiheit für alle Menschen kraft ihrer Menschheit gleich ist, ist das Eigentum jedes Menschen ein anderes. Wenige Menschen haben viel, und viele haben wenig an Eigentum. Eigentum ist das Eigene, das das Volk einzelnen Menschen überläßt. Neben dem privat bestimmten Gebrauch gibt es immer auch staatlich (gesetzlich) bestimmten Gebrauch des Eigentums. Um des gemeinsamen Lebens in der Republik willen müssen dabei Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetze des Volkes bestimmt werden. Dadurch sind Eigentum und Eigentumsgebrauch allgemeinverträglich. Das muß insbesondere für Unternehmungen gelten. Liberalistisch hingegen wird Eigentum als Recht praktiziert, andere zu beherrschen und auszubeuten. Wenn herrschaftliches Eigentum über die Staaten gestellt wird, die die Freiheit der Menschen und Völker verwirklichen (sollen), ist die republikanische Freiheit ruiniert – wie im Globalismus unserer Tage. Allein aufklärerisch verstandene Freiheit macht den Menschen zum Bürger. Der Bürger unterscheidet sich vom Untertanen durch seine politische und ökonomische Selbständigkeit, die ihm die Autonomie des Willens, die Freiheit eben, möglich macht. Dieser Selbständigkeit dient das Eigentum, auf das jeder Mensch ein Recht hat. Die politische Freiheit ist das Desiderat unserer Zeit, in der sich Herrschaft machtvoll entfaltet, notdürftig moderiert durch klägliche Grundrechte von Untertanen. Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider lehrt Öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt anläßlich des 50. Jahrestages der Römischen Verträge (JF 13/07). Bild: Eugène Delacroix, Die Freiheit führt das Volk an, Öl auf Leinwand, 1830: Würde der aufklärerische Freiheitsbegriff verwirklicht, wäre die Herrschaft der Parteiendemokratie beendet.
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