Wieder einmal neigt sich ein dreißigjähriger Krieg in Deutschland seinem Ende entgegen. Der Gegner – ein fiktiver und deswegen besonders heftig geschmähter – namens "soziale Ungerechtigkeit" konnte abermals nicht bezwungen werden. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Kriegen sind kaum Tote zu beklagen, wenigstens war dies keine offen erklärte Absicht. Die Waffen Geld und Worte kamen zum Einsatz. Verletzungen wurden aber auch damit beigefügt. Wie in jedem modernen Krieg wurde eine irrsinnige Materialschlacht geführt. Vergebens. Ein Phantomgegner läßt sich nicht sichtbar bezwingen, und damit waren die Gefechte von vorne herein zum Scheitern verurteilt – wenigsten für die Einsichtigen. Die aber durften, wieder kriegsparallel, keine "defätistische" Propaganda verbreiten. Bestenfalls wurden sie mundtot gemacht, in der Regel aber als "Freund des Feindes" mit der Ächtung "unsozial" ins Abseits der verordneten politischen Systemkorrektheit gedrückt.
Nun sind die Waffen abgestumpft und die Munitionsbestände verschossen. Das Ende des Krieges gegen die "soziale Ungerechtigkeit" hinterläßt – wie stets bei lange anhaltenden Kriegen – einen gigantischen Scherbenhaufen. In den vergangenen dreißig Jahren hat der exzessive Ausbau des Sozialstaates – die neuzeitliche Allzweckwaffe gegen die "soziale Ungerechtigkeit" – nicht nur dazu geführt, daß immer größere Anteile des Haushalts für eine bloße Umverteilung der Einkommen verwendet werden und ein kaum vorstellbar hoher Schuldenberg entstanden ist. Der Krieg gegen die "soziale Ungerechtigkeit" veränderte auch das politische System, bis hin zur Erosion der verfaßten Grundordnung. 1945, nach dem Ende des vorletzten großen Krieges und dem Untergang der nationalsozialistischen Diktatur, entstand das Konzept eines freiheitlich-demokratischen Deutschlands. Daraus ist im Laufe des Krieges ein neuer sozialistischer Staat entstanden. Das Ende dieses Krieges läßt nun auch diese Sozialismusvariante untergehen.
Die Grundlage zur Deformation der deutschen Verfassungsordnung schuf der Bundeskanzler, der den Beginn des Krieges gegen die "soziale Ungerechtigkeit" einläutete, Willy Brandt. Mit seiner Forderung "Mehr Demokratie wagen" wurde gleichzeitig die Devise verkündet: "Auf Freiheiten verzichten". Mit dem Vorrang der Demokratie gegenüber der Freiheit ging nicht bloß eine Gewichtsverlagerung, sondern mehr noch eine Wertung in "gut" und "böse" einher. Wer auf Freiheiten pochte, wurde als undemokratisch verketzert. Freie Marktwirtschaft ist seither "böse", "soziale Gerechtigkeit" "gut". Individuelle Verhaltensweisen, die zuvor der freien Entscheidung des Einzelnen oblagen, wurden mehr und mehr zur "demokratischen" Disposition gestellt. Die Idee der Demokratie wurde dabei zunehmend beschnitten, indem einem einzelnen Teilaspekt der Demokratie – Entscheidungen über Abstimmungsverfahren herbeizuführen – die Dominanz eingeräumt wurde.
Das Grundprinzip der Demokratie, daß mit einer Entscheidung gegen den Willen Beteiligter keine Grundrechte verletzt sein dürfen, wird heute kaum noch diskutiert. Der Wirtschaftswissenschaftler und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek hat schon früher von der Gefahr gesprochen, daß die Demokratie dadurch zu einer Diktatur der Mehrheit über die Minderheit verkommen kann. Gerade die "sozial gerechte" Allzweckwaffe der Umverteilung fordert dies geradezu heraus. Die minderbemittelte Mehrheit zwingt die relativ reichere Minderheit zur Einkommens- und Vermögensabgabe. Wird berücksichtigt, daß die Finanzierung der Umverteilung teilweise über den Aufbau immenser Staatsschulden erfolgt, die mindestens zwanzig nachfolgende Generationen ungefragt belasten, besteht in Deutschland sogar die Diktatur einer Minderheit (der aktuell lebenden Schuldenmacher) über die Mehrheit (der nachfolgenden Generationen, die diese Schulden bezahlen sollen).
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Mit dem Untergang des deutschen Sozialstaats wird die Staatsbürgerschaft in Frage gestellt. Die bisherige Gleichsetzung von Staatsbürgerschaft und Gesellschaft zerbricht. Der deutsche Personalausweis entfällt als Anspruchsgrundlage staatlicher Transfereinkommen.
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Die Diktatur der Abstimmung pervertiert die freiheitliche Demokratie in ein sozialistisches System, von ihren Apologeten daher auch zynisch als "demokratischer Sozialismus" bezeichnet. Das Ergebnis ist die pseudolegitimierte Enteignung der Minderheit durch die Mehrheit im Namen der sozialen Gerechtigkeit. Die Folgen sind aus der Geschichte bekannt. Die Ersetzung des mildtätigen Gnadenaktes durch den staatlich gesicherten Rechtsanspruch Leistungsschwacher auf Alimentation durch Leistungsstarke führt zu einer Erosion der gesamten Leistungsfähigkeit. Leistungsstarken geht der Anreiz zur Entfaltung ihrer vollständigen Leistung verloren, Leistungsschwachen der Anreiz zur Leistungssteigerung. Diese Entwicklung mündet in einer weitgehend gleichmäßigen Versorgung auf unterem Niveau und geht einher mit einem permanenten Abbau von Vermögenswerten, einschließlich der Umweltqualität, und dem Auftürmen immenser Schuldenberge.
Sozialistische Systeme können eine Zeitlang existieren, ihr Ende ist jedoch mit Sicherheit vorbestimmt, weil sie erstens ihr materielle Substanz verbrauchen und zweitens irreversible Prozesse beinhalten: Sie lassen sich grundsätzlich nicht reformieren. Eine Reform würde voraussetzen, daß Nutznießer der Umverteilung freiwillig auf ihre Macht zur Umverteilung verzichten. Selbst wenn taktische Kalkulationen dies als sinnvolle vorübergehende Maßnahme erscheinen lassen, siegt langfristig das Umverteilungsstreben. Allenfalls wäre damit eine Verlängerung des Erosionsprozesses erreicht. Über kurz oder lang sterben daher alle sozialistischen Systeme zwangsläufig ab.
Der einzelne, permanent durch Umverteilung zur Ader gelassene Staatsbürger kann dieser diktatorischen Entwicklung durch Auswanderung oder "innere Emigration" seiner Leistungsbereitschaft entgehen. Dieser Schritt wird vollzogen, wenn die Verlustsituation durch den Austritt aus der Staatsbürgerschaft geringer eingeschätzt wird als die Verlustsituation bei Aufrechterhaltung – oder wenn die Beiträge zur Umverteilung schlicht nicht mehr geleistet werden können. Umgekehrt bringt die Zuwanderung nach Deutschland keine Leistungsträger ins Land, die dazu noch umverteilungswillig wären, sondern hauptsächlich Umverteilungsbedürftige, die das Sozialsystem zusätzlich belasten. Auf eine freiwillige Umkehr ist nicht zu hoffen. Die Reformunfähigkeit des Systems bestätigen sämtliche deutschen Regierungswechsel seit 1981. Auch in Deutschland ist daher der vollständige Zerfall des sozialistischen Staatssystems unvermeidbar.
Jeder Zusammenbruch eröffnet jedoch auch die Möglichkeit eines Neubeginns. Er bedingt allerdings die Fähigkeit Deutschlands zu einem tragfähigen Wandel und erfordert eine einschneidende Zäsur. Die Möglichkeit der Rettung durch einen nationalen Bruderstaat, wie seinerzeit beim Zusammenbruch der DDR durch die Bundesrepublik, entfällt. Das Prinzip wird daher zunächst heißen: "Rette sich, wer kann", "Jeder ist sich selbst der Nächste" und "Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott". Die Grundlage des deutschen Neubeginns ist folglich ein erfolgreiches und nachhaltiges "Management" des sozialstaatlichen Untergangs.
Insbesondere gilt es, einen Paradigmenwechsel im Verständnis von Staat und Gesellschaft zu bewerkstelligen. Der Sozialstaat ist tot. Tritt an seine Stelle die soziale Gesellschaft? Voraussetzung wäre eine moralische Erneuerung der Gesellschaft, die zur freiwilligen, nicht staatlich organisierten Umverteilung von Einkommen bereit wäre. Neben dieser Bereitschaft ist aber auch die Fähigkeit zur Umverteilung notwendig. Auch dazu ist eine moralische Erneuerung vonnöten. Ein drittes Problem betrifft die Definition der deutschen Gesellschaft.
Mit dem Untergang des deutschen Sozialstaats wird die Staatsbürgerschaft in Frage gestellt. Die bisherige Gleichsetzung von Staatsbürgerschaft und Gesellschaft zerbricht. Der deutsche Personalausweis entfällt als Anspruchsgrundlage staatlicher Transfereinkommen. Er wird damit für weite Kreise der Bevölkerung unattraktiv, zumal dort der Gedanke, Mitglied der deutschen Gesellschaft zu sein, vielfach zumindest als unangenehm empfunden wurde. Nun gilt es, eine neue Verknüpfung von Staat und Gesellschaft herzustellen. Bei der vertrauten Konstruktion eines Nationalstaats Halt zu suchen, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Vor dem deutschen Sozialstaat starb der deutsche Nationalstaat. Das national Verbindende wurde auf das Nationalsoziale reduziert, nationale Kultur und Geschichte zu "Unthemen" erklärt. Der mediale und mentale Sieg der kommunistischen Variante des Sozialismus über den desavouierten Nationalsozialismus bewirkte zudem, daß mit der betonten Verunglimpfung des Nationalgedankens vom eigentlichen Problemfeld "Sozialismus" vollständig abgelenkt wurde.
Andererseits fordert eine Renaissance der deutschen Gesellschaft Überlegungen zur Reanimierung des Nationalen geradezu heraus. Die Propagierung des Nationalen im Sinne der bloßen deutschen Abstammung kann aber die Probleme nicht lösen. Dazu haben zu viele – auch autochthone – Deutsche zu lange schon das süße Gift des Sozialismus als gesellschaftliche Droge konsumiert. Entscheidend ist jetzt nicht die physische Abstammung, sondern eine Geisteshaltung, die eine überlebensfähige soziale und leistungsfähige Gesellschaft ermöglicht. Damit wird die von vielen immer noch als leidig empfundene Wertediskussion neu eröffnet, eine Diskussion, die schon in ihren Ansätzen den Deutschen seit fast einem Jahrhundert schwerfällt.
Kaum wird das äquivalente Wort von der Leitkultur in den Mund genommen, erhebt sich ein Protestgeschrei. Vornehmlich aus dem Lager der prinzipiell Deutschfeindlichen. Da diese in der Regel gleichzeitig Vertreter des sozialistischen Umverteilungsstaates sind, dürfte das Protestgeschrei künftig ebenso schnell an Lautstärke verlieren, wie die Umverteilungsmasse vollends entschwindet. Wichtig wird die Konzentration auf das Wertvolle, das für ein funktionierendes Gemeinwesen in der Nachfolge des staatlichen Sozialismus notwendig ist.
Dabei auf so häufig gescholtene sogenannte deutsche Tugenden zurückzugreifen, ist nicht verkehrt: Verantwortungsbewußtsein, Fleiß, Pünktlichkeit, Sauberkeit, (Selbst-)Disziplin sind Komponenten, die nicht zuletzt zu einer hohen ökonomischen Effizienz beitragen. Zusammen mit der Freiheit des Wirtschaftens und der Achtung des Eigentums bilden sie erfahrungsgemäß die Grundlage für wachsenden Wohlstand. Die Abwertung als sogenannte Sekundärtugenden und der zynische Hinweis eines ehemaligen deutschen Bundesministers und Parteivorsitzenden, damit könne auch ein Konzentrationslager betrieben werden, darf nicht zu einem generellen Verzicht auf den Einsatz dieser Stärken führen. Mit einem Hammer können Nägel und Köpfe eingeschlagen werden. Wegen der Möglichkeit des letzteren auf das erstere zu verzichten, wäre töricht.
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Nur mit Rückbesinnung auf marktwirtschaftliche Leistungsbereitschaft, Freiheit und christliche Kultur können die Deutschen den Zusammenbruch des inländischen Sozialismus meistern und in einer europäischen Wertegemeinschaft neu beginnen.
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Gleiches gilt für die Verteufelung der freien Marktwirtschaft. Ihre Effizienz zur Erzeugung von Wohlstand ist konkurrenzlos. Ellenbogenmentalität und Herzlosigkeit sind dabei keine notwendigen Wesensmerkmale, wie viele privat initiierte gemeinnützige Errungenschaften sogenannter Kapitalisten in Gegenwart und Vergangenheit beweisen. Allerdings bedarf es dazu einer ethischen und moralischen Grundlage. Man muß seinen Profit durch Selbstbeschränkung zurücksetzen können. Bei freien marktwirtschaftlichen Vereinbarungen profitieren grundsätzlich beide Seiten, sonst kämen diese Kontrakte nicht zustande. Das Ausmaß der einzelnen Profite kann jedoch durchaus unterschiedlich sein. Die Tugenden der persönlichen Bescheidenheit, Zurückhaltung und des Anstands, der Mildtätigkeit und Barmherzigkeit sind aber gerade in der langen Zeit sozialistischer Praktiken degeneriert. Das soziale Gewissen wurde beim Finanzamt abgeliefert und der staatlich organisierten Umverteilung von Einkommen überlassen, die persönlich zu tragende Sozialleistung hauptsächlich durch spektakuläre Fernsehspendenshows abgegolten.
Um das soziale Gewissen der deutschen Gesellschaft zu reaktivieren, wäre eine breite Rückbesinnung auf christliche Lehrsätze hervorragend geeignet. Die Säkularisierung des Staates und das Gebot der religiösen Neutralität haben in Verbindung mit dem Sozialismus dazu geführt, daß sich die deutsche Gesellschaft, wie auch andere europäische, immer weiter vom Christentum entfernte. Dabei spielt noch nicht einmal der verlorene religiöse Glaube die entscheidende Rolle. Die Gesellschaft hat die Bindung an die christlichen Gebote gelöst. Die aber waren Jahrhunderte Garant für ein funktionierendes Gemeinwesen. Eine Wiederentdeckung der christlichen Fundamente bedeutet nicht religiösen Fundamentalismus im Sinne einer Staatsreligion. Ein entscheidender Vorteil der christlichen Lehre ist gerade der dezidierte Hinweis auf die individuelle Verantwortung vor Gott. Dazu bedarf es keines ausgeprägten Sozialstaates, der gerade nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Strukturen sowieso nicht mehr vorhanden ist. Das christliche Fundament bestärkt die Freiheit des Einzelnen in seiner Verantwortung für sich und den Nächsten. Das Christentum ist damit nicht nur aus ethisch-moralischer Sicht ein starkes Fundament der Gesellschaft, sondern auch aus Sicht einer freiheitlichen Grundordnung – und ein wohlfahrtseffizientes System noch dazu.
Bei einer Rückbesinnung auf marktwirtschaftliche Leistungsbereitschaft, Freiheit und christliche Kultur können die Deutschen den Zusammenbruch des inländischen Sozialismus meistern. Dann und nur dann, wenn dieser Wandel in Deutschland gelingt, kann es auch zu einem Neubeginn in einer europäischen Gemeinschaft kommen. Dabei drängt sich das Schlagwort auf: "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen", das so häufig sinnentstellt mißbraucht wurde. Schon das Wort "Soll", das allenfalls als moralischer Imperativ im Sinne Kants zu verstehen wäre, stellt eine Verzerrung dar. Im Original heißt es: "Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen!" und geprägt wurde dieser Gedanke von dem deutschen Lyriker Emanuel Geibel (1815-1884) in dem Gedicht "Deutschlands Beruf" aus dem Jahre 1861 – also vor der Gründung eines deutschen Nationalstaates.
Dabei müßten die Europäer noch nicht einmal befürchten, zuviel typisch Deutsches zu übernehmen. Die christliche Grundlage einer neuen deutschen Gesellschaft reflektiert schließlich eine typisch europäische Vergangenheit. Den Deutschen steht es frei, bei dieser Renaissance voranzumarschieren. Ob die Deutschen diese Chance nutzen, steht in den Sternen. Sicher ist jedoch, daß sie diese Chance erhalten.
Prof. Dr. Bernd-Thomas Ramb lehrte Wirtschaftswissenschaften unter anderem an der Universität/Gesamthochschule Siegen und arbeitet als selbständiger wirtschaftswissenschaftlicher Berater. Bei diesem Aufsatz handelt es sich um einen überarbeiteten und erweiterten Auszug eines Vortrags vor der Münchner Winterakademie am 15. Februar 2006, der als Hörskript bei www.hoerskript.de erscheint.