Am Donnerstag kam der Innenausschuß im nordrhein-westfälischen (NRW) Landtag gleich zweimal zusammen: Am Vormittag, um Sachverständige in einer Anhörung zu Konsequenzen aus der Silvesternacht zu befragen. Und am Nachmittag zu einer regulären Sitzung. Bei dieser bestand der Schwerpunkt in einer rund 90minütigen Debatte über den im April veröffentlichten Jahresbericht des Landesverfassungsschutzes (VS).
Zu Beginn der Debatte irritierte die innenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Christina Kampmann, mit der Frage, was aus den Menschen geworden sei, die sich aus dem Corona-Protestspektrum zurückgezogen haben. „Sind das die Nichtwähler von morgen?“, fragte sie und wollte wissen, ob der Verfassungsschutz dazu „aus demokratietheoretischer Sicht“ relevante Erkenntnisse habe. Landesverfassungsschutzchef Jürgen Kayser klärte Kampmann darüber auf, daß dies zwar für Politikwissenschaftler interessant, aber „kein Beobachtungsauftrag“ seiner Behörde sei.
Insgesamt aber nutzten die Oppositionsfraktionen die 90 Minuten zu einer hohen Anzahl kritischer Nachfragen. Dabei waren beim Thema Islamismus Marc Lürbke, innenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, sowie der SPD-Abgeordnete Benedikt Falszewski die aktivsten Fragesteller. Unter anderem wollten sie wissen, wie es um die Erfolgsbilanz des 2014 gestarteten Präventionsprogramms „Wegweiser“ bestellt sei. In den vergangenen Jahren hatte sich die Landesregierung nur sehr schmallippig zu konkreten Ergebnissen des kostspieligen Programms geäußert.
Erfolg von Präventionsprogramm bleibt unklar
Einmal hieß es, „Wegweiser“ sei erfolgreich. Bei näherer Betrachtung zeigte sich jedoch, daß dies an der Anzahl der Beratungsfälle festgemacht wurde. Später sprach Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) davon, die meisten Beratungsfälle nähmen „einen erfolgreichen Verlauf“. Welche Voraussetzungen konkret erfüllt sein müssen, um einen Beratungsverlauf als erfolgreich zu bewerten, erläuterte der CDU-Politiker jedoch nicht.
Und auch am Donnerstag bekamen Lürbke und Falszewski keine klaren Antworten. Jürgen Kayser wies darauf hin, daß das Programm „einem effektiven Controlling“ unterworfen sei. Auch sei „Wegweiser“ erst jüngst „umfangreich extern evaluiert“ worden. Zu den Ergebnissen von Controlling und Evaluierung wollte der Verfassungsschutzchef jedoch auch nach einer weiteren Nachfrage dazu immer noch nichts sagen. Damit ist rund neun Jahre nach dem Start von „Wegweiser“ noch immer unklar, was das Programm tatsächlich gebracht hat.
Fragen zur Rolle und Bedeutung des legalistischen Islamismus wurden jedoch nicht gestellt. Unter legalistischen Islamisten, für die auch der Begriff des „Politischen Islam“ verwendet wird, werden Akteure und Gruppierungen verstanden, die ebenso wie Jihadisten die islamische Rechtsordnung, die Scharia, als Gesellschaftsform anstreben, dies aber im Gegensatz zu Jihadisten im Rahmen bestehender Gesetze erreichen wollen.
VS-Chef weicht aus
Zu den in NRW derzeit aktivsten Gruppierungen dieser Art gehören die ursprünglich aus Ägypten stammende und nunmehr aus Katar unterstützte Muslimbruderschaft sowie die türkisch-rechtsextremen Grauen Wölfe. Diese Organisationen wurden lediglich von Marc Lürbke im Zusammenhang mit dem derzeit stattfindenden türkischen Wahlkampf angesprochen.
Beim Thema Linksextremismus waren Marc Lürbke sowie Markus Wagner, innenpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion, die aktivsten Fragesteller. Dabei kamen schnell Gruppierungen zur Sprache, die derzeit vorgeben, sich für den Klimaschutz engagieren zu wollen. „Gibt es beim Klimaschutz so eine Art Welpenschutz?“, fragte Lürbke bissig. „Was wäre denn, wenn Reichsbürger so etwas machen würden?“.
„Das haben wir genau im Blick“, antwortete Kayser und verwies darauf, daß einige dieser Gruppen zwar Straftaten begingen, sich aber nicht gegen die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung richteten. „Die Ziele dieser Gruppen sind nicht extremistisch“, behauptete der VS-Chef, fügte dabei aber schnell noch „Stand heute“ ein.
Reul hüllt sich in Schweigen zum VS-Bericht
„Gruppen wie ‘Fridays For Future`, die ‘Letzte Generation` und andere eint eines, nämlich die Forderung nach dem Systemwechsel“, widersprach Markus Wagner. „Im Verfassungsschutzbericht ist darüber nichts zu finden.“ Jürgen Kayser aber blieb bei seiner Darstellung. Der VS-Chef begründete das damit, daß diese Gruppierungen zwar die Errichtung sogenannter Räte fordern, mit diesen aber keine Legislative ersetzen wollten.
Auch Marc Lürbke meldete sich dazu mehrfach zu Wort: „Die Grünen feiern das, daß man hier nicht konsequent einschreitet“, sagte der FDP-Politiker sichtlich verärgert. Kurz zuvor hatte er das auffällige Schweigen von Innenminister Reul scharf kritisiert: „Eine Debatte über den Verfassungsschutzbericht ist eine fachliche, aber auch eine politische Debatte. Und ich habe das Gefühl, hier beantwortet Herr Kayser alles.“ Dabei wirkte Kayser zunehmend nervös; spätestens an dieser Stelle wurde deutlich, daß Herbert Reul am Donnerstag alles ihm überließ und selbst nichts sagen wollte.
Gleichzeitig ließ AfD-Mann Wagner nicht locker und kam immer wieder auf die Frage zurück, warum kriminelle Klima-Bewegungen nicht als extremistisch eingestuft werden. Jürgen Kayser aber blieb mit immer neuen Argumenten dabei, daß diese Organisationen keinen Systemwechsel anstreben würden. Plötzlich konfrontierte der AfD-Politiker den VS-Chef mit einem Ultimatum, das die „Letzte Generation“ vor längerer Zeit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und seiner Regierung gestellt habe.
Darin drohte die „Letzte Generation“ mit Blockaden, falls Scholz ihre Forderungen nicht erfülle. „Wie kann man den Staat denn noch mehr delegitimieren, als in diesem Beispiel?“, wollte Wagner wissen. „Ich will den Brief an Olaf Scholz nicht bewerten“, antwortete Kayser. „Zumindest stellt man nicht die Forderung, Olaf Scholz mit Gewalt abzusetzen.“ Die Antwort machte selbst Markus Wagner sprachlos.
Rechtsextremismus sei größte Gefahr
Die wenigen Fragen, die von Seiten der Grünen gestellt wurden, zielten auf Erkenntnisse zu Rechtsextremisten sowie zu Akteuren aus dem Milieu der Reichsbürger ab. Auch die CDU-Fraktion hielt sich zurück, was bei Fraktionen an der Regierung beteiligter Parteien auch den parlamentarischen Gepflogenheiten entspricht. Deren innenpolitischer Sprecher Christos Katzidis betonte jedoch, daß es Konsens sei, daß die größte Gefahr für die Demokratie derzeit vom Rechtsextremismus ausgehe.
Lediglich Markus Wagner stimmte dem nur bedingt zu: „Bei der Feststellung, daß der Rechtsextremismus eine große Gefahr ist, würde ich mitgehen wollen“, sagte der AfD-Politiker. „Jeder Extremismus ist eine große Gefahr.“ Wenn er sich die Zahlen zum Personenpotential etwa von Islamisten oder die von Terrorverfahren ansehe, könne er jedoch nicht verstehen, warum der Rechtsextremismus stets als die größte Gefahr bezeichnet wird.
„Das ist eine Einschätzung, die man nicht nur an Zahlen festmachen kann“, antwortete der Chef des Landesverfassungsschutzes. „Was den Rechtsextremismus von den anderen Bereichen unterscheidet, ist das Phänomen der Entgrenzung. Daher sehen wir das als größte Gefahr.“ Mit dem Begriff der Entgrenzung werden Bemühungen von Extremisten bezeichnet, mit gesellschaftlich akzeptierten Themen und Positionen Anschluß an bürgerliche Kreise zu finden und damit selbst gesellschaftsfähig zu werden.
Anhörung zur Silvesternacht bietet unfreiwillige Komik
Bereits mehrere Stunden vor dieser Debatte fanden sich die Mitglieder des Innenausschußes zusammen mit denen des Rechtsausschußes sowie des Ausschuß für Arbeit, Gesundheit und Soziales im Plenarsaal ein. Dort fand eine Anhörung mit dem Titel „Einsatzkräfte schützen und Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unseres Rechtsstaates bewahren – Landesregierung muß Konsequenzen aus der Silvesternacht ziehen“ statt. Dabei konnten die Ausschußmitglieder insgesamt acht Sachverständige, darunter auch den Psychologe Ahmad Mansour, dazu befragen.
Als die Fragen gestellt wurden, wirkten die Ausschußmitglieder von CDU, SPD und Grünen jedoch bemüht, diese nur allgemein gehalten zu formulieren. Hätte sich an dieser Stelle der Anhörung ein unkundiger Zuschauer in den am Rhein gelegenen Landtag verirrt, hätte er wohl Mühe gehabt, zu verstehen, was in der Silvesternacht überhaupt passiert ist und wer daran beteiligt war.
Die meisten Sachverständigen spielten das Spiel mit: So versuchte der Sozialpsychologe Andreas Zick von der Universität Bielefeld sofort, die Ereignisse der Silvesternacht zu relativieren, indem er sie mit Rechtsextremismus und anderen Formen steigender Gewalt in einen Kontext brachte. Anna Rau, Geschäftsführerin des Vereins „Deutsch-Europäisches Forum für Urbane Sicherheit“, redete nur in allgemeiner Form von Prävention und forderte mehr Stellen dafür. Im Gegensatz zu anderen Ländern würde Deutschland seinen „geballten Sachverstand“ in dieser Disziplin nicht nutzen. Raus leidenschaftliches Plädoyer für mehr Präventionsstellen führte für einen kurzen Moment zu unfreiwilliger Komik, als sie empört feststellte: „Meine eigenen Kinder hatten noch keine Präventionsmaßnahme!“
Deutsche Polizei werde nicht als stark wahrgenommen
Die AfD-Fraktion wiederum versuchte mit ihren Fragen, den Kontext der Silvesterkrawalle auf Migration und den Islam zu reduzieren. „Im Islam gibt es ein Haus des Friedens und ein Haus des Krieges“, erläuterte der AfD-Abgeordnete Daniel Zerbin seine Theorie. Damit erlitt er aber Schiffbruch, denn selbst die wenigen Experten, die deutlich forderten, die Täterstrukturen klar zu benennen, erteilten dem eine schroffe Absage. So wies Ahmad Mansour darauf hin, daß Muslime in der Silvesternacht nicht nur auf Seiten der Täter zu finden waren, sondern auch auf Seiten der Opfer sowie in den Reihen der Polizei.
Wie in den meisten seiner Vorträge verortete Mansour die Ursache des Problems in patriarchalen Strukturen. Dennoch dürfe „Mannsein nicht kriminalisiert werden“, forderte er. Daß so viele Jugendliche den deutschen Rechtsstaat als schwach wahrnehmen und sich gar nicht vorstellen können, von diesem bestraft zu werden, führte er auch darauf zurück, daß viele von ihnen einen direkten Vergleich zwischen der Autorität der deutschen Polizei und der ihrer Herkunftsländer haben.
Kriminalbeamter macht seinem Ärger Luft
Zu einer ruhig und diszipliniert vorgetragenen, aber dennoch schonungslosen Analyse gerieten die Antworten von Oliver Huth. „Wir sind an einem Punkt, der für die Kollegen nicht mehr akzeptabel ist“, sagte der Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). „So geht es nicht weiter, weil den Jugendlichen eben keine Konsequenzen aufgezeigt werden.“ Huth kritisierte insbesondere die Langsamkeit der Gerichte. Dabei sprach er von einem jungen Mann, der in der Düsseldorfer Altstadt einen Polizisten angegriffen habe. Dieser mußte sich aber erst ein Jahr später vor dem Amtsgericht verantworten, was dann auch noch mit einer Bewährungsstrafe endete.
„Wir wissen ja gar nicht, wer die Täter sind. Wir nehmen ja nur drei von hundert fest, die mit Flaschen auf uns losgehen und Mülltonnen anzünden“, stellte Oliver Huth verärgert klar. „Wir sind weit weg von dem, was der Rechtsstaat will.“ Mehrfach forderte der BDK-Landesvorsitzende, die Eltern der zumeist jugendlichen Straftäter in die Pflicht zu nehmen. Ausschreitungen dieser Art würden weitergehen, „wenn wir den Eltern nicht auf die Füße steigen.“
Auch habe die Kriminalpolizei immer mehr Aufträge zu erfüllen, erfahre aber nicht genug Unterstützung durch die Politik. „Erwarten Sie nichts von der Kriminalpolizei“, beendete Huth seine Ausführungen. „Wir sind mit unserem Personal und der Ausbildung gar nicht in der Lage, unseren gesetzlichen Auftrag zu erfüllen.“ (wp)