Es ist nicht zu übersehen: Der 72. Sudetendeutsche Tag im oberfränkischen Hof („In Bayern ganz oben“) markiert einen tiefen Einschnitt, vielleicht sogar eine Wende im politischen Leben der Volksgruppe. Nicht mehr die Forderungen nach Aufhebung von tschechischen Unrechtsdekreten werden das Treffen an der Grenze zur alten Heimat dominieren, denn zum ersten Mal in seiner 72jährigen Geschichte steht das traditionelle Pfingsttreffen unter dem Eindruck eines großen Krieges in Europa, sozusagen in der Nachbarschaft. Und diese „Zeitenwende“ bestimmt die Thematik.
Der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj wird mit dem Karlspreis der Landsmannschaft ausgezeichnet. Die Ehrung trägt Symbolcharakter. „In diesen Zeiten“, sagt Bernd Posselt, der Sprecher und Bundesvorsitzende der SL, „rückt Europa noch enger zusammen. Wir Sudetendeutsche sind Teil eines europaweiten Netzwerks der Solidarität mit dem ukrainischen Volk, mit dem wir historisch und kulturell seit Jahrhunderten eng verbunden sind.“ Diese thematische Gewichtung des Treffens in Hof erspart der Führung der Landsmannschaft (vorerst) eine klare Positionierung in Fragen, welche die eigene Volksgruppe betreffen.
Die täglichen Fernsehbilder aus der Ukraine wecken bei vielen Sudetendeutschen Erinnerungen an die Jahre 1945/46, auch wenn der historische Kontext zunächst ein anderer ist. Aber wenn russische Politiker von der „Endlösung der ukrainischen Frage“ und der „Entfernung des Krebsgeschwürs bis hin zur polnischen Grenze“ reden, so sind das keine verbalen Ausrutscher. Es sind nationalistische Exzesse, und sie haben System.
In bezug auf Sudetendeutsche ist in Prag wenig passiert
Terminologisch unterscheiden sie sich kaum von den Propagandaformeln, mit denen einst gegen die Sudetendeutschen Stimmung gemacht wurde. Man erinnere sich nur an die Greuel von Aussig, Brünn, Saaz und Postelberg, um nur einige Orte zu nennen. Heute stehen ukrainische Städtenamen für die Serie von Verbrechen an unschuldigen Menschen. Mit Entsetzen sieht die friedensverwöhnte Welt, wie Flucht und Vertreibung wieder in die Schlagzeilen rücken, von Völkermord die Rede ist – und zugleich die Solidarität mit den Opfern der russischen Aggression zu bröckeln beginnt. Die ukrainischen Fernsehnachrichten seien ohnehin nicht mehr vom bisherigen Optimismus gegenüber dem Aggressor geprägt, schrieb kürzlich die Welt. „Es scheint, als könnten die technisch überlegenen russischen Militärs mit Zähigkeit und Geduld diejenigen Regionen der Ukraine entvölkern, verheeren und unterwerfen, die sie auf dem Zettel hatten – unter unseren Augen.“
Sollte diese Wahrnehmung stimmen, hat das weitreichende Konsequenzen für Europa. Die SL wird nicht umhinkommen, ihr ursprünglich auf Volksfestcharakter gestyltes Pfingstprogramm in Hof (Motto: „Dialog überwindet Grenzen“) zu aktualisieren – oder zu erweitern. Das gilt ebenso für eine nüchterne Beurteilung der deutsch-tschechischen Beziehungen. Die seien, behauptet der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, inzwischen „hervorragend“. Es sei „sehr, sehr viel passiert“, meint auch Karl Fürst Schwarzenberg, einst Außenminister unter Václav Havel. Das läßt sich gewiß nicht bestreiten.
Bei der Beurteilung von Putins Ukraine-Krieg, von Moskau als „militärische Spezialoperation“ verharmlost, sprechen Berlin, München und Prag annähernd die gleiche Sprache. Die bürgerliche Regierung an der Moldau hat mit Freundlichkeiten gegenüber dem Kreml, wie man sie vor allem von Präsident Miloš Zeman gewohnt war, aufgeräumt. Zemans Amtszeit geht ihrem Ende zu. Nur noch 20 Prozent der Tschechen seien mit ihm zufrieden, haben Demoskopen herausgefunden. 78 Prozent verhehlen nicht ihren Unmut über den derzeitigen Hausherrn auf der Burg. Die momentane politische Großwetterlage verdeckt allerdings die Tatsache, daß in der sudetendeutsch-tschechischen Frage auch unter der Regierung des Bürgerlichen Petr Fiala noch wenig Substantielles passiert ist.
Noch steht Unerledigtes auf der Tagesordnung
Der Ukraine-Krieg überdeckt alles. Und je länger dieser Zustand anhält, desto mehr droht in Vergessenheit zu geraten, daß noch Unerledigtes auf der Tagesordnung steht. Bereits heute wagt es kaum noch ein Politiker, an die menschenrechtswidrigen Benesch-Dekrete zu erinnern, mit denen es Tschechien – auch mit deutscher Unterstützung – in die „Wertegemeinschaft“ EU geschafft hat. In Prag denkt man nicht daran, sich von dieser Hypothek zu befreien. Die Dekrete, so hat das tschechische Parlament 2002 feierlich bekundet, seien „unantastbar und unveränderlich“. Damals regte sich in Teilen des politischen und publizistischen Spektrums noch Empörung ob solcher Anmaßung.
Heute herrscht das große Schweigen. Auch Vertriebenenblätter scheuen davor zurück, die Fortexistenz der Dekrete angemessen zu thematisieren. Aber vielleicht spricht ja der Sudetendeutsche Tag in Hof, in unmittelbarer Nachbarschaft mit Tschechien ein klares Wort. Zumal da im Zusammenhang mit dem Geschehen in der Ukraine so viel von Festhalten an Rechtsstandpunkten die Rede ist.
Die Tschechische Republik übernimmt ab nächstem Monat den Vorsitz im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, sie tritt an die Stelle von Rußland, dessen Mitgliedschaft suspendiert worden ist. Moskau müsse für Aggression, das menschliche Leid und die Zerstörung in der Ukraine zur Rechenschaft gezogen werden, hat die Regierung in Prag erklärt: „Die Förderung der Menschenrechte ist eine Priorität der tschechischen Regierung.“ Das werden vor allem Sudetendeutsche mit Interesse zur Kenntnis nehmen.
Sudeten-Treffen im Sudetenland?
„Wir haben schon viel erreicht“, ließ sich schon vor Jahren der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) zitieren. Seehofer hatte 2010 als erster bayerischer Ministerpräsident Prag einen offiziellen Besuch abgestattet. Er lobte die atmosphärischen Verbesserungen in den bayerisch-tschechischen Beziehungen. Doch Seehofer äußerte damals auch noch einen Wunsch: „So richtig rund wird die Geschichte erst, wenn wir einen Sudetendeutschen Tag in Tschechien begehen. Das möchte ich noch erleben.“ SL-Sprecher Posselt knüpfte mehrmals, zuletzt im Juli 2021 daran an. „In vielen tschechischen Dörfern treffen sich bereits Einheimische und Sudetendeutsche, das funktioniert super.“
Posselt sagte aber ebenso, daß eine solche Veranstaltung nur dann in Tschechien stattfinden könne, wenn die Regierung in Prag keine Einwände habe. Zu einer definitiven, positiven Entscheidung hat sich das Kabinett Fiala bislang nicht durchgerungen. So ist der Sudetendeutsche Tag in Hof vielleicht eine erste vorsichtige Etappe auf dem Weg zum eher großen Ziel.
Pfingstreffen: Seit 1950 findet traditionell zu Pfingsten der Sudetendeutsche Tag als bundesweites Treffen der Landsmannschaft statt. Neben der Pflege des Brauchtums stehen Gottesdienste, Kundgebungen und die Verleihung der Karlspreise 2020 (an Rumäniens Staatspräsident Klaus Johannis) und 2022 (an den ukrainischen Präsidenten Wolodomyr Selenskyi) auf dem Programm.
JF 23/22