BERLIN. Der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek hat der Bundesregierung bei der Bekämpfung des Coronavirus vorgeworfen, teilweise gegen das Grundgesetz zu verstoßen. Einige der von der Bundesregierung und den Landesregierungen erlassenen Maßnahmen seien überzogen und verfassungswidrig, sagte Murswiek im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT.
Anfangs habe die Politik zu zögerlich auf die Epidemie reagiert. Mit dem Shutdown sei dann die Reißleine gezogen worden, erläuterte der Staatsrechtler. Danach sei unter den Politikern ein Wettbewerb entstanden, wer die schneidigsten Verbote erlasse. „Das führte uns in einen Ausnahmezustand, wie wir ihn seit Bestehen der Bundesrepublik noch nie gehabt haben: flächendeckende und einschneidende Grundrechtsbeschränkungen für die gesamte Bevölkerung, Lahmlegung ganzer Wirtschaftszweige, totale Suspendierung der Versammlungsfreiheit, Veranstaltungsverbote, Gottesdienstverbote. Das ist in ganz besonderem Maße rechtfertigungsbedürftig, und die Bundesregierung hat ihre Rechtfertigungspflicht nicht hinreichend erfüllt.“
Vorwurf der Willkür
Für problematisch hält Murswiek insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. „Die Grundrechtseinschränkungen müssen einem Gemeinwohlziel dienen, und sie müssen – bezogen auf dieses Ziel – geeignet, erforderlich und im engeren Sinne verhältnismäßig sein. Bei der Abwägung der Freiheitseinschränkungen mit dem angestrebten Gemeinwohlnutzen darf der Nachteil für die Betroffenen nicht schwerer wiegen.“ So müsse beispielsweise geprüft werden, ob der Schutz von Risikogruppen oder die Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems auch erreicht werden könnten, ohne das gesamt öffentliche Leben stillzulegen.
Laut Murswiek sind ein totales Versammlungsverbot und ein totales Gottesdienstverbot in diesem Zusammenhang auch unverhältnismäßig. „Veranstaltungen und Demonstrationen mit begrenzter Teilnehmerzahl, bei denen die Veranstalter die Beachtung der Infektionsschutzabstände garantieren, müssen erlaubt werden. Entsprechendes gilt für Gottesdienste. Das Verbot der Nutzung einer eigenen Zweitwohnung läßt sich nicht rechtfertigen, und auch das Verbot der Vermietung von Ferienwohnungen dürfte unverhältnismäßig sein, sofern Hygienestandards eingehalten werden. Vieles spricht auch dafür, daß das Verbot, Ladengeschäfte mit mehr als achthundert Quadratmeter Verkaufsfläche zu öffnen, willkürlich ist.“
Murswiek sieht Entschädigungsanspruch
Gleichzeitig warnte der Jurist davor, die Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus würden die Bürger noch teuer zu stehen kommen. Betroffene hätten je nach Fall durchaus einen Anspruch auf Wiedergutmachung. „Wer durch staatliche Verbote einen Schaden erlitten hat, obwohl er selbst nicht für die Gefahr verantwortlich ist, die mit dem Verbot abgewendet werden soll, muß meines Erachtens einen Anspruch auf Entschädigung haben.“
Auch sei vom Standpunkt der Verteilungsgerechtigkeit nicht einzusehen, warum manche die Folgen der Maßnahmen ausbaden müßten, andere aber nicht. „Für Schäden, die durch politische Entscheidungen verursacht werden, müssen alle Bürger als Steuerzahler aufkommen, und so werden die Coronamaßnahmen wohl noch sehr, sehr teuer für uns alle werden“, mahnte Murswiek. (krk)
> Das gesamte Interview mit Dietrich Murswiek erscheint am Freitag in der aktuellen JF (Nr. 18/20).