BERLIN. Insgesamt 327 Todesopfer hat das DDR-Regime an der innerdeutschen Grenze in der Zeit von 1949 bis 1989 gefordert. Dies geht aus einer Studie des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin hervor, die am Mittwoch vorgestellt wurde. Mit dieser Untersuchung wurde die Aufarbeitung der Todesfälle an der knapp 1.400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze abgeschlossen, nach dem die Zahl der an der Berliner Mauer bei Fluchtversuchen Getöteten (mindestens 139 Todesopfer) bereits 2009 in einem Vorgängerprojekt erforscht worden war.
Die innerdeutsche Grenze „war, wenn der Zynismus erlaubt ist, noch brutaler als die Berliner Mauer“, sagte Projektleiter Klaus Schroeder. „Menschen, die auf Bodenminen traten, sind zerfetzt worden, zum Teil sind sie im Unterholz nicht gesehen worden, Monate später wurden sie skelettiert als Leichen gefunden. Das jüngste ermittelte Opfer ist ein sechs Monate alter Säugling, der im Juli 1977 im Kofferraum eines Fluchtfahrzeugs erstickt war; das älteste ein 81jähriger Bauer aus dem niedersächsischen Lüchow-Dannenberg, der im Juni 1967 irrtümlich in ein Minenfeld geraten und nach drei Stunden verblutet war.
Neue Perspektive auf DDR-Grenzer
Die Forscher zählten 238 Todesopfer im Grenzgebiet, darunter 42 Todesfälle ohne Fluchthintergrund durch Schußwaffen, Minen oder Unfälle im Grenzraum und in den Grenzanlagen; außerdem 24 Todesfälle „in Ausübung des DDR-Grenzdienstes“ (erschossene Grenzsoldaten) sowie 44 Selbsttötungen von Grenzpolizisten und -soldaten mit dienstlichem Hintergrund. In einem Fall hatte sich zum Beispiel ein Grenzer das Leben genommen, nachdem er unmittelbar zuvor ein Minenopfer bergen mußte.
„Unser Bild von den Grenztruppen hat sich geändert“, so Mitherausgeber Jochen Staadt. „Es gab viele junge Männer, die ihre Weigerung, auf Flüchtlinge zu schießen, bekundeten.“ Daher habe es pro Jahr etwa 1.000 Versetzungen aus dem Grenzdienst gegeben. „Viele von ihnen verrichteten diesen Dienst nicht aus freiem Willen, manche zerbrachen daran. Auch ihnen wurde das DDR-Grenzregime zum tödlichen Verhängnis“, so Staadt.
80 Prozent der Fluchtversuche wurden schon im Vorfeld unterbunden, 15 Prozent der Flüchtlinge wurden im Grenzraum festgenommen, fünf Prozent waren erfolgreich. Noch nicht berücksichtigt wurden in der Untersuchung die bei der Flucht über die Ostsee ums Leben gekommenen DDR-Flüchtlinge sowie die Toten der „verlängerten Mauer“, also der Grenzen der sogenannten „sozialistischen Bruderstaaten“. Hierfür müßte eine weitere Studie in Auftrag gegeben werden, meinten die Berliner Wissenschaftler.
Drei Bundesländer beteiligten sich an den Kosten
„Die Erinnerung an die Schrecken des Grenzregimes an der ehemaligen innerdeutschen Grenze aufrecht zu erhalten, ist ein zentrales Anliegen bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die neuen Forschungsergebnisse leisten einen wichtigen humanitären Beitrag, indem Sie den Todesopfern an der innerdeutschen Grenze Namen und Gesicht wiedergeben und ihrer auf diese Weise würdig gedenken“ sagte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) bei der Vorstellung der Studie in der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße in Berlin.
Schroeder hob bei der Vorstellung auch hervor, daß von einer „Siegerjustiz“ nach der Wiedervereinigung nicht die Rede sein könne: „Die Verfahren gegen DDR-Grenzpolizisten und Grenzsoldaten, denen eine tödliche Schußabgabe auf Flüchtlinge an der DDR-Grenze nachgewiesen werden konnte, endeten entweder mit Freisprüchen oder Bewährungsstrafen.“ Nur 30 Personen, davon neun Schützen, wurden ohne Bewährung verurteilt.
Das Forschungsprojekt wurde mit 642.000 Euro gefördert, den Mammutanteil übernahm der Bund. Beteiligt haben sich auch die Länder Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Kritik äußerten die Herausgeber der Studie an den anderen Bundesländern, die eine Kostenbeteiligung zum Teil ohne Begründung abgelehnt hatten. Das biographische Handbuch zur Studie „Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949 – 1989“ (684 Seiten, 49,90 Euro) ist im Verlag Peter Lang erschienen. (vo)