Über dem 20. Jahrestag der Wiedervereinigung liegt eine unfrohe Stimmung. Meldungen über einen Wirtschaftsaufschwung können sie nicht heben. Das Günstigste, was Allensbach vermeldet, ist dies: Die Deutschen seien es müde, ihre Ost-West-Gegensätze weiter zu thematisieren. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Führungskompetenz der Eliten befindet sich unterdessen im freien Fall. Das Gefühl der Überforderung scheint die Politiker selbst ergriffen zu haben.
Passend dazu bricht ein Buch, das die Gefahr der Selbstabschaffung Deutschlands durch Vergreisung, Verdummung und Islamisierung zum Thema hat, alle Umsatzrekorde. Haben die Bedrückung und Gereiztheit vielleicht damit zu tun, daß die vielbeschworene „deutsche Frage“ 1989/90 nur teilweise beantwortet wurde?
Der 3. Oktober 1990 lädt zu großen Emotionen nicht ein. Er war das frühestmögliche Datum für den Beitritt der DDR zum Grundgesetz, den die DDR-Volkskammer nach einer chaotischen Sitzung beantragt hatte. Davor aber schiebt sich ein anderes Datum, der 9. November 1989, an dem der Mauerfall die schlimmste der Nachkriegsanomalien beendete. Die Anomalie bestand weniger in der deutschen Mehrstaatlichkeit, die bis 1871 der Normalzustand gewesen war, sondern im Eisernen Vorhang, der das Land und den Kontinent teilte. Mehr als jedes andere Volk vergleichbarer Größe war das politische Schicksal der Deutschen von äußeren Umständen beeinflußt.
Deutsche Politik nach 1890 überfordert
Auch die Reichsgründung hatte nur aufgrund günstiger außenpolitischer Konstellationen stattfinden können, die sich rasch wieder änderten. Spätestens seit Bismarcks Abgang 1890 war die deutsche Politik mit der Situation überfordert und schwankte zwischen Furcht und Großspurigkeit. Nach dem Ersten Weltkrieg gingen wesentliche Teile der Souveränität schon wieder verloren: durch Gebietsabtretungen, Reparationen, internationale Kontrollen. Militärisch war Deutschland wehrlos.
Das versprach Hitler zu ändern und begann ein Vabanquespiel ohnegleichen. Seine am Ende mörderische Politik hatte eine tragische Kehrseite, die der Historiker Ludwig Dehio so formulierte: „In Wahrheit rang im Dritten Reiche zum ersten Mal eine der großen Nationen, und eine noch rüstige und lebensvolle, mit dem Tode.“ 1945 hatte sich ihr Schicksal erfüllt, war Deutschland geteilt und kam unter russisch-amerikanische Oberhoheit.
Die DDR war eine Schöpfung Moskaus, was durch die Niederschlagung der Revolte am 17. Juni 1953 unterstrichen wurde. Es liegt eine bittere Ironie darin, daß dieser Tag, an dem Deutschland seine nationale Unfreiheit nochmals erfuhr, in der Bundesrepublik zum Feiertag erhoben wurde. Sie besaß ebensowenig wie die DDR einen eigenen ideellen Kern, aus dem sich ein kraftvoller Staatsmythos ableiten ließ. Beide waren staatliche Provisorien, denen die nationale Erfüllung versagt blieb.
Daher die vielen Ausweichversuche, um dem nationalen Schicksal zu entrinnen: in den Regionalismus, den Verfassungspatriotismus, nach Europa, in den Postnationalismus, in die Westbindung, in die Schuldtranszendenz. >>
Doch es gab kein Entkommen: Erst recht in der deutsch-deutschen Frontstellung blieben die Deutschen in einer Schicksalsgemeinschaft vereint. Noch in den 1980er Jahren meinten die Verbündeten in West und Ost, beiden Staaten atomare Kurzstreckenraketen zumuten zu dürfen, die ausschließlich dazu geeignet waren, den jeweils anderen Teil Deutschlands auszulöschen.
Im Rüstungswettlauf mit Amerika außer Atem geraten, lockerte die Sowjetunion den Griff um ihre Satelliten einschließlich der DDR. Die Bürgerrechtler warfen viel Mut, Herzblut und Moral in die Waagschale, aber wenig Wissen um politische Strategie und Taktik und historische Zusammenhänge. Zu einer eigenständigen Antwort auf die „deutsche Frage“ waren sie nicht imstande. Und die Bundesrepublik lieferte sie lediglich durch die zupackende Art, in der Kanzler Helmut Kohl den wehenden „Mantel der Geschichte“ ergriff und auf die staatliche Einheit drängte.
Rettung der Reste eigener Staatlichkeit
Jenseits davon überwogen die Hoffnung, es möge alles beim alten bleiben, sowie die Furcht, von einem souveränen Gesamtdeutschland erneut überfordert zu werden. Offenbar wurde das im Widerstand gegen den Regierungsumzug von Bonn nach Berlin. In der Bundestagsdebatte im Juni 1991 sagte der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt zornig, in Frankreich wäre niemand auf den Gedanken gekommen, in Vichy zu bleiben, als Paris wieder frei war.
Natürlich ging es Brandt allein um die staatsrechtliche Parallele: Vichy wie Bonn waren der Versuch gewesen, unter dem Siegerpatronat die Reste eigener Staatlichkeit zu retten. Während aber die Franzosen 1944/45 die unterbrochene Souveränität in Paris wieder aufnahmen, strich „das westliche Teildeutschland, mit seiner inbrünstigen West-Identifikation im kalten Krieg“, gegenüber der DDR als „dem letzten Verlierer“ des Weltkriegs (Wolfgang Schivelbusch) stolz seine Zugehörigkeit zum westlichen Siegerlager heraus. Weil die kathartische Aufarbeitung seiner gleichfalls subalternen Position unterblieb, wurde diese zum Bestandteil des gesamtdeutschen Selbst.
Dort entäußert sie sich in Hysterieschüben, Selbstanklagen und in der beflissenen Übertragung von Souveränitätsrechten an die Brüsseler Bürokratie. Ein wahrhaftig in sich freies, eines Tages vielleicht sogar vollkommen geeintes Europa kann sich aber nur auf der Grundlage freier Völker bilden. In diesem Sinne ist die „deutsche Frage“ weiterhin offen und muß die deutsche Einheit erst noch vollendet werden.
JF 40/10