DAMASKUS. Syriens neuer Regierungschef Mohammed al-Baschir hat seine Landsleute aufgerufen, in ihre Heimat zurückzukehren. „Mein Appell richtet sich an alle Syrer im Ausland: Syrien jetzt ein freies Land, das seinen Stolz und seine Würde wiedererlangt hat. Kommen Sie zurück“, sagte er der italienischen Zeitung Corriere della Sera.
Das „Humankapital“ der Rückkehrer werde dem Land zu einem Aufschwung verhelfen, sagte al-Baschir, der zuvor Machthaber in der Stadt Idlib war und der islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Scham (HTS) angehört. „Wir müssen wieder aufbauen, wiedergeboren werden, und wir brauchen die Hilfe aller.“
Das oberste Ziel der neuen Herrscher sei „die Wiederherstellung von Sicherheit und Stabilität in allen Städten Syriens“. Die Autorität des Staates müsse wiederhergestellt werden, um den Menschen eine Rückkehr zu Arbeit und einem normalen Leben zu ermöglichen.
al-Baschir verspricht friedliches islamisches Regime
Der 1983 geborene Ingenieur betonte auch die Schwierigkeiten, denen sich die neue Regierung gegenübergestellt sehe. Sie erbe eine „elefantöse, von Korruption geplagte Verwaltung“. Finanziell gehe es dem Land schlecht, da die syrische Währung „wenig oder nichts“ wert sei. „Wir haben keine Devisen, und was Kredite und Anleihen betrifft, sammeln wir immer noch Daten.“
Vom Islamismus dschihadistischer Prägung distanzierte sich das HTS-Mitglied. „Das Fehlverhalten einiger islamistischer Gruppen hat dazu geführt, daß viele Menschen, insbesondere im Westen, Moslems mit Terrorismus und den Islam mit Extremismus in Verbindung bringen.“ Auf diese Weise sei der Islam verfremdet worden. „Gerade weil wir islamisch sind, werden wir die Rechte aller Völker und aller Konfessionen in Syrien garantieren“, sagte al-Baschir.
Harte Strafen plane die neue Regierung allerdings für mehrere Akteure der gestürzten Regierung Baschar al-Assads. Auf mindestens 160 Personen wurde ein Kopfgeld ausgesetzt. Dabei handele es sich um „Personen, die für Verbrechen vor und während der syrischen Revolution von 2011 verantwortlich sind“. Es gehe um Menschen, „die Tausende von Bürgern jahrzehntelang in Gefängnissen verschwinden ließen“, sagte der Regierungchef. Sie hätten „gefoltert und getötet“ und ihre Taten seien „von internationalen und nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert“ worden.
Frage nach Feindschaften blieb unbeantwortet
Außenpolitisch habe sich die Regierung bereits mit dem Irak und der Volksrepublik China ausgetauscht. Es gebe „keine Probleme mit Staaten, Parteien oder Sekten, die sich von Assads blutrünstigem Regime distanziert haben“. Auf die Frage der italienischen Zeitung, ob dies bedeute, daß sich die neue syrische Regierung mit Israel verbünden werde und sich hingegen von Iran, Rußland und den Hisbollah distanziere, antwortete al-Baschir nicht.
Am Montag hatte die österreichische Regierung beschlossen, alle offenen Asylanträge syrischer Staatsbürger vorerst auszusetzen. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) wies Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) an, insgesamt 7.300 laufende Anträge auf Eis zu legen und den Familiennachzug zu stoppen. Langfristig solle ein „geordnetes Rückführungs- und Abschiebeprogramm nach Syrien“ vorbereitet werden, sagte Karner.
In Deutschland wies das Institut für Arbeitsforschung darauf hin, daß der deutsche Arbeitsmarkt eine Massenabwanderung von Syrern gut verkraften würde. In Deutschland sind insgesamt mehr als 35 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Der Anteil syrischer Arbeitnehmer an dieser Zahl beträgt in fast allen Berufsgruppen weniger als ein Prozent, erklärte der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Bei Bürgergeldempfängern und der Kriminalitätsstatistik sind sie dagegen deutlich überrepräsentiert.
Beobachter zweifeln an Friedlichkeit
Die neue Herrschaftsorganisation Syriens, die HTS, hatte sich in der Vergangenheit bereits mehrfach vom Dschihadismus distanziert. Dabei entstand die Gruppe ursprünglich selbst als Abspaltung des Terrornetzwerks Al-Kaida. Immer wieder werden von Beobachtern daher Zweifel an diesen Distanzierungen geäußert.
So berichteten Augenzeugen auch im Zusammenhang mit dem Sturz des Assad-Regimes von Angriffen auf ethnische und religiöse Minderheiten, die durch HTS-Mitglieder begangen worden sein sollen. Die französischen Behörden haben die Miliz zudem im Verdacht mit einem Terroranschlag in Frankreich aus dem Jahr 2020 in Verbindung zu stehen. (lb)