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Wie geht es weiter?: Ukraine-Lagebericht: Verbissene und verbitterte Verteidiger

Wie geht es weiter?: Ukraine-Lagebericht: Verbissene und verbitterte Verteidiger

Wie geht es weiter?: Ukraine-Lagebericht: Verbissene und verbitterte Verteidiger

Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj: Die Lage ist angespannt. Aktuell ist unklar, wer die Nord Stream-Pipelines gesprengt hat.
Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj: Die Lage ist angespannt. Aktuell ist unklar, wer die Nord Stream-Pipelines gesprengt hat.
Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj: Nord Stream-Sprengung nicht von Kiew beauftragt Foto: picture alliance / SvenSimon-ThePresidentialOfficeU | Presidential Office of Ukraine
Wie geht es weiter?
 

Ukraine-Lagebericht: Verbissene und verbitterte Verteidiger

Geht der Ukraine langsam der Atem aus? Nach der gescheiterten Sommeroffensive bewegt sich die Front nur geringfügig und wenn, dann in Richtung Westen. Eine aktuelle Zusammenfassung.
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Die Ukraine hat in den letzten Wochen wenig Grund zur Freude gehabt. In Washington steht angesichts der Blockadehaltung der Republikaner zunehmend in Frage, ob die Waffen- und Finanzhilfen, die für die Durchhaltefähigkeit der Ukraine unerläßlich sind, in dem bekannten Ausmaß weitergeführt werden oder nicht. Längst ist klar, daß Israel eine höhere Priorität bei den US-amerikanischen Außenpolitikern eingenommen hat. Es bewährt sich die alte Weisheit über Supermächte. Sie verlieren keine Kriege, sie verlieren lediglich das Interesse.

Zehntausende von tapferen ukrainischen Soldaten werfen jeden Tag ihr Leben in die Waagschale des Schicksals, um auf dem Schlachtfeld eine Wende herbeizuführen. Aber sollte der Strom der Hilfslieferungen in Waffen, Geld und anderen Gütern zum Erliegen kommen, wird Rußland alsbald seine Geländegewinne zementieren und womöglich mutiger werden und neue Vorstöße ins ukrainische Kernland wagen.

Es ist keinesfalls so, daß die Ukraine keinerlei Unterstützung mehr erwarten kann. Immerhin kommen die Munitionsproduktionsstraßen in der EU langsam in die Gänge. Bulgarien entsendete erst kürzlich etwa 100 BTR-Transportpanzer und größere Mengen an Munition sowjetischer Bauart, die dort noch produziert werden. Das kleine Land in Südosteuropa erweist sich als erstaunlich guter Partner für die Ukraine. Denn der Bedarf an Munitionsarten und Waffensystemen aus sowjetischer bzw. postsowjetischer Produktion besteht noch immer. Die meisten europäischen Partner haben bereits ihre alten Depots für die Ukraine geleert, weshalb es essentiell ist, daß Länder wie Tschechien, Bulgarien, Polen und die baltischen Länder weiterhin für einen kleinen, aber steten Zufluß von Material sorgen.

Die Hilfe tropft, sie fließt nicht

Die ukrainische Rüstungsproduktion scheint auch selbst in die Gänge zu kommen. Laut eigenen Angaben produziert die Ukraine monatlich sechs Bohdana-Panzerhaubitzen und dutzende Schützenpanzer in gut geschützten, teils unterirdischen Fabrikhallen. Auch aus den westlichen Kernstaaten wie Großbritannien, Amerika und Australien kommen weitere Waffenpakete, die der Ukraine erlauben, den Kampf am Laufen zu halten. Auch die Lieferung von F-16-Kampfjets steht an und wird die stark geschundene ukrainische Luftwaffe womöglich wieder teilweise konkurrenzfähig machen. Die Moral der ukrainischen Soldaten gilt noch als gut. Zumindest wenn es darum geht, eigenes Gebiet zu verteidigen.

Dennoch bleibt des Pudels Kern, daß die Hilfe tropft statt fließt und die ukrainischen Reserven und Offensivkapazitäten durch die gescheiterte Sommeroffensive aufgebraucht wurden. Diese geschundenen Einheiten wieder aufzubauen, wird Monate dauern, und die Menschenleben, die verloren wurden, werden nicht mehr zu ersetzen sein. Schon vor Beginn der Sommeroffensive gab es zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und dem ukrainischen Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj Gerüchten zufolge immer wieder Streit, der auf den Stabsebenen ausgetragen wurde. Während beispielsweise von einigen Militärs, darunter vermutlich auch Saluschnyj, das politisch gewollte Festhalten an der Stadt Bachmut im letzten Jahr kritisiert wurde, war die Verteidigung der Stadt im Donbass von Kiews politischer Führung zum Heldenkampf stilisiert worden.

Bachmut wurde ein politisches Symbol für den Durchhaltewillen der Ukrainer, die dort zwar erhebliche Verluste bei den russischen Streitkräften anrichtete, selbst aber viele tausend Männer und Frauen in blutigen Häuserkämpfen verlor.  Es gab und gibt berechtigte Zweifel, ob nicht ein Rückzug auf bessere Verteidigungslinien bei Kramatorsk und Slowjansk besser für die Ukraine gewesen wäre. Immer wieder befahl Kiew das Durchhalten bei Bachmut, sodaß frische Verbände der ukrainischen Armee in den sich bereits schließenden Kessel geschickt wurden, wo sie zwar tapfer kämpften, aber letztlich ebenfalls arg dezimiert wurden. Das Verheizen von Wagner-Söldnern auf russischer Seite war womöglich für Rußland deutlich verkraftbarer als der Verlust der verhältnismäßig wenigen Söhne, Väter und Großväter auf ukrainischer Seite.

Einstiger Präsidentenberater wirft der Regierung in Kiew schwere Fehler vor

Der nächste Zwist zwischen der militärischen Führung der Ukraine und Präsident Selenskyj soll sich bei der Planung und Durchführung der Sommeroffensive zugetragen haben. Nachdem die Ukraine bei Charkiw und Cherson sehr erfolgreich Gebiet zurückerobert hatte, sollte eine neue Offensive mit vor allem westlichen Waffen alsbald einen neuen Erfolg bringen, der den westlichen Partnern signalisiert, daß die Ukraine gewinnen und sogar die Krim zurückerobern kann. So zumindest argumentieren einige Kommentatoren des militärisch-politischen Zeitgeschehens die Lage.

Der einstige Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch, der nicht nur die russische Invasion präzise vorhersagte, sondern in seinen eigenen Medienkanälen mit Kritik am Präsidenten nicht mehr zurückhält, wirft der Führung in Kiew enorme strategische Fehler bei der Planung der Offensive vor und sprach sich zudem für Neuwahlen aus, um zu prüfen, ob Präsident Selenskyj noch den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung hat. Arestowytsch kämpfte selbst früher im Donbass, ist ein Offizier der Streitkräfte und durchaus nicht unpopulär innerhalb der Ukraine. Mittlerweile soll er jedoch, nachdem seine Kritik am Präsidenten immer schärfer wurde, das Land verlassen haben. Angeblich aus Angst davor, verhaftet zu werden.

Daß die Brüche im Block rund um den Präsidenten immer deutlicher zum Vorschein kommen, ist seit dem Interview, das Saluschnyj vor einigen Wochen gegeben hat, offensichtlich geworden. Schon vor einem Jahr wurde gemunkelt, daß Saluschnyi und einige andere Offiziere in seinem Zirkel lieber einen Waffenstillstand geschlossen hätten, da der Dnepr als Wassergrenze nur schwer zu überschreiten ist und die Lage im Donbass für beide Seiten als schwierig und festgefahren bewertet wurde. Ob dem so war, werden Historiker später bewerten und herausfinden müssen.

Auch in der Ukraine gibt es Kritik an der eigenen Führung

Klar ist nur, daß es im Vorfeld auch von patriotischen Militärbloggern der Ukraine diese Ideen gab. Es ist mitnichten nicht nur die russische Milblogger-Szene, die Kritik an der eigenen Führung in Moskau äußert. Auch in der Ukraine gibt es Kritik an der eigenen Führung, die natürlich mit den zunehmenden Misserfolgen auf dem Schlachtfeld nur verstärkt wird.

Vor etwa zwei Wochen gelang der Ukraine nach mehreren Versuchen die Etablierung eines festen Brückenkopfes über den Dnepr. Der Kampf wurde also über den Fluß vom Norden Chersons in den noch von den Russen besetzten Süden getragen, was angesichts der Versteinerung der Front andernorts für Hoffnung auf einen Durchbruch an dieser Stelle sorgte. Allerdings erweist sich die Versorgung der eigenen Truppen für die Ukraine als großes Problem. Ein Problem, das auch die Russen bereits vor einem Jahr genauso erlebten und weshalb die Kommandantur den Rückzug befahl.

Kein Ende in Sicht

Die Ukraine scheint jedoch an ihrem Brückenkopf festhalten zu wollen und schiebt immer wieder Truppen nach, die sich in heftigsten Kämpfen mit russischen Verbänden befinden. Leidensfähigkeit scheinen weder Ukrainer noch Russen zu missen. Davon haben beide Seiten mehr als genug.

Obwohl die Ukraine lokale Gegenangriffe mit kleinen Erfolgen im Donbass durchführt, bewegt sich die Front insgesamt seit etwa einem Monat langsam, aber beständig westwärts. Was die russischen Streitkräfte an Menschen und Material für diese Geländegewinne zu opfern bereit sind, dürfte für westliche Militärs schwindelerregend sein. Bei den Verlusten, die allein rund um Awdijiwka eingefahren wurden, wären die allermeisten Streitkräfte kleinerer europäischer Staaten danach kampfunfähig geworden. Es ist nicht mehr unwahrscheinlich, daß sich die Anzahl der Verluste in Toten, Verwundeten und Vermißten insgesamt, wenn man die beider Seiten zusammenrechnet, in Richtung eine halbe Million bewegt. Und es ist kein Ende in Sicht.

Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj: Nord Stream-Sprengung nicht von Kiew beauftragt Foto: picture alliance / SvenSimon-ThePresidentialOfficeU | Presidential Office of Ukraine
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