Es war ein äußerst knapper Wahlausgang, der Luiz Inácio Lula da Silva, den Kandidaten der Arbeiterpartei, wieder in den brasilianischen Präsidentenpalast beförderte. Lediglich 1,8 Prozentpunkte trennten den ehemaligen Arbeiter an einer hydraulischen Presse vom Zweitplatzierten, dem Ex-Offizier und bisherigen Amtsinhaber Jair Bolsonaro. Am Ende fehlten letzterem rund zwei Millionen Stimmen der 156,4 Millionen Wahlberechtigten.
Lula steht vor einem geteilten Land. Die Bürger der südwestlichen Hälfte haben mit großer Mehrheit gegen ihn, die in der nordöstlichen mit großer Mehrheit für ihn gestimmt. Der 77jährige erbt ein mißtrauisches Militär, eine ihm feindlich eingestellte obere Mittelschicht, eine Landbevölkerung, bei der er verhaßt ist, und fanatische Anhänger in Städten sowie armutsgeprägten Bezirken, für die er ein Heilsbringer ist. Verglichen mit seinen ersten beiden Amtszeiten 2003 bis 2010 ist Lulas Position umstrittener, das Klima im Inland schwieriger geworden.
Bolsonaro mag bei vielen Brasilianern unbeliebt gewesen sein – für andere war der streitbare ehemalige Artillerist aber ein Held im Kampf gegen Korruption und Kriminalität, die das Land im Würgegriff halten. Lula hatte lange Zeit ebenfalls mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen. Selbst die eigenen Mitglieder bescheinigen seiner Partei ein Korruptionsproblem.
Auf die „blaue Welle“ folgte eine rote
Immerhin kann der Wahlsieger beruhigt auf das Ausland blicken. Dort wird die Rückkehr des alten Gewerkschafters mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Das war vor einigen Jahren noch anders. Die Wahl des rechtskonservativen Bolsonaro fiel in eine „blaue Welle“. In Kolumbien, Argentinien und Chile regierten Konservative oder Wirtschaftsliberale, in Bolivien wurde nach einer Intervention des Militärs die Parlamentspräsidentin Jeanine Áñez als Interimspräsidentin vereidigt und in Venezuela sah es für einen Augenblick so aus, als würde die linke Diktatur von Nicolás Maduro ebenfalls der Geschichte anheimfallen.
Doch es kam anders: Auf die blaue Welle folgte eine rote – von einer anderen Qualität als vermutet. In Chile gelang dem offen linksradikalen Gabriel Boric der Einzug in das Präsidentenamt, im kolumbianischen Bogota regiert mittlerweile der ehemalige Guerillero Gustavo Petro und Jeanine Áñez sitzt im Gefängnis, während die Partei des damals abgesetzten Evo Morales wieder den Präsidenten stellt. Viele der Vertreter der neuen roten Welle gehören allerdings nicht mehr der alten sozialistischen Garde im Zeichen von Che Guevara, Militärdiktatur und Kaltem Krieg an, sondern einer neuen „woken“ Strömung, die sich mehr um Regenbogenthemen und weniger um den Aufbau eines Arbeiter- und Bauernstaats kümmert.
Lula. Alegría! https://t.co/ORsTb06D8y
— Gabriel Boric Font (@gabrielboric) October 30, 2022
Trotzdem betritt Lula die internationale Bühne in einer freundlichen Atmosphäre. Auch aus dem globalen Norden kann er sich über Zuspruch freuen. Die großen Akteure der EU begrüßten ausdrücklich seine Rückkehr und verkündeten, vorher eingestellte Zahlungen zum Schutz des Amazonas in dem riesigen Land wieder aufzunehmen. US-Präsident Joe Biden sandte Glückwünsche und selbst die CIA drohte dem knapp unterlegenen Bolsonaro kaum verhohlen Konsequenzen an, sollte er weiterhin das Wahlergebnis anzweifeln. Der berüchtigte Auslandsgeheimdienst der USA tritt an zur Verteidigung eines linken Wahlsiegs in Südamerika – wie sich die Zeiten ändern.
Dahinter dürfte auch die Hoffnung stehen, mit dem linken Lula einen neuen Verbündeten im Kampf gegen Peking und Moskau zu finden. Bolsonaro hatte neben einer persönlichen Sympathie für den „starken Mann im Kreml“ auch darauf geachtet, Brasilien soweit wie möglich aus Sanktionen gegen die russische Föderation heraus zu halten. Bei seiner Chinapolitik hatte der ursprüngliche Hardliner eine im Laufe seiner Amtszeit eine Kehrtwende vollzogen.
Brasiliens Außenpolitik hat eigene Dynamik angenommen
Doch es spricht viel dafür, daß sich die westliche Hoffnung auf eine Rückkehr Brasiliens in die eigene Sphäre nicht erfüllen wird. Denn längst hat die brasilianische Außenpolitik eine eigene Dynamik angenommen, die kaum zu stoppen ist. Angefangen beim größten Akteur im Pazifik nach den Vereinigten Staaten: der Volksrepublik China. Nicht nur sind Brasília und Peking im BRICS Abkommen verpartnert – die beiden großen Flächenstaaten teilen auch überraschend viele Interessen.
Brasilien hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der größten Getreideproduzenten entwickelt. Gemeinsam mit den deutlich kleineren Mercosur-Partnern Uruguay, Paraguay und Argentinien dürfte es sich dabei mittlerweile mit Abstand um den größten Sojaproduzenten der Welt handeln. Auch in der Getreideproduktion holt der Block auf. Aus den schier unerschöpflichen Minen und Tagebauen des Amazonasbeckens fördert Brasilien Rohstoffe für die weltweite Produktion von Industriegütern. Die Häfen des Landes bilden die Verschiebung des Welthandels ab. Über ein Drittel der eigenen Waren gehen in die Volksrepublik, ein Viertel des Imports erfolgt aus China.
Auch außenpolitisch teilen beide Länder gemeinsame Interessen. Sanktionen und Handelsschranken behindern Brasilien und China gleichermaßen. Auf brasilianischen Feldern wird unverändert russischer Dünger ausgebracht, brasilianische Häfen bleiben größtenteils für russische Importe offen. Militärisch hat sich die südamerikanische Großmacht ohnehin längst emanzipiert, auch durch den Aufbau einer einheimischen Rüstungsindustrie. Der Flugzeughersteller Embraer produziert neben zivilen auch militärische Rüstungsgüter die selbst im umkämpften europäischen Markt ihren Absatz finden. Bei Einkäufen achtet das Land auf eine Ausgewogenheit, zum Zuge kommen Produzenten aus Schweden, Frankreich und Deutschland.
Was Argentinien in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht gelungen ist, vollzieht Brasilien – eine weitgehend von US-Importen unabhängige Rüstung. Auch die Charmeoffensive aus Washington wird daran voraussichtlich nichts ändern. Im Südatlantik hat sich Brasilien längst ein eigenes Sicherheitssystem aufgebaut, setzt mit großem Erfolg auf die kulturelle und sprachliche Verbundenheit der Mundo Lusófono – der portugiesischsprachigen Welt – etwa durch Militärübungen mit Angola, den Kapverden und Guinea Bissau. Hier macht Brasilien den eigenen Anspruch deutlich, selber für Ordnung zu sorgen und Seewege frei zu halten.
Chile plagen Anschläge und Inflation
Dem brasilianischen Machtanspruch in der Region beugt sich auch Buenos Aires. Historisch verbindet die beiden Staaten eine herzliche Rivalität die politisch über die Zwischenstation einer freundschaftlichen Zusammenarbeit in einer politisch-ökonomischen Abhängigkeit geendet ist. Dem individuellen Argentinier mag es nicht behagen, aber außenpolitisch ist man vom großen Nachbarn abhängig. Jahrzehnte von Wirtschaftskrisen haben von den hohen Zielen des Peronismus nichts übriggelassen. Wo sich etwas bewegt, etwa in der Bahninfrastruktur oder in der Nuklearenergie, passiert es eingebettet in eine Partnerschaft mit China oder Brasilien. Die peronistische Regierung von Alberto Fernandez ist sich dessen bewußt und hat bereits unter Bolsonaro die guten Beziehungen aufrechterhalten.
Mit dem alten Bekannten Lula wird sich dies vermutlich nicht verschlechtern. Beide Präsidenten eint eine persönliche Abneigung gegen die „Yanquis“ aus dem Norden. Während sich Lula an die US-Unterstützung der brasilianischen Junta zu Zeiten der Militärdiktatur erinnert, empfindet der Peronist die gesamte Geschichte Südamerikas seit 1945 als konstante Erniedrigung durch die Weltmacht auf der anderen Halbkugel.
Auf der anderen Seite der Anden regiert in Chile mit Gabriel Boric zwar ein ausgesprochen „woker“ linker Präsident dessen eigene Geschichte mit der traditionellen Linken durchaus Konflikte auf persönlicher Ebene bereithalten könnte, dennoch dürfte sich Santiago dem brasilianischen Machtanspruch in keiner Weise entgegensetzen. Chile geht durch eine tiefgreifende Wirtschaftskrise. Anschläge und eine Rekordinflation erschüttern das Land. Mit dem kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro eint Lula hingegen die gemeinsame Vergangenheit im kommunistischen Widerstand.
Mercosur bleibt Kern brasilianischer Macht
Die Zusammenarbeit beider Länder dürfte deutlich zunehmen, die kolumbianisch-amerikanische hingegen leiden. Zu stark war Washington in den vergangenen fünfzig Jahren in die blutige Geschichte Kolumbiens verstrickt. Auch mit Venezuela stehen die Zeichen auf Entspannung. Hatte Bolsonaro noch Soldaten an die unzugängliche Grenze geschickt, wird Lula wohl so schnell wie möglich auf eine Öffnung derselben für Waren und Personen hinarbeiten. Besonders profitieren dürfte Bolivien durch den Wegfall einer freundlichen Regierung. In Brasilien könnte der Separatismus in der Region Santa Cruz deutlich schwächer werden. Die dort vorherrschende katholisch-rechte Strömung hatte während der Bolsonaro-Ära teils offen, teils verdeckt Hilfe aus Brasilien erhalten.
Kern brasilianischer Macht auf dem Kontinent bleibt aber der Zusammenschluß Mercosur. Die vier Agrarländer koordinieren neben anderen Feldern vor allem ihren Außenhandel, ein Freihandelsabkommen mit der EU sollte ursprünglich die Zusammenarbeit krönen. Unter Bolsonaro litten die Verhandlungen jedoch unter inhaltlichen und persönlichen Konflikten mit Staatslenkern in Europa. Jetzt, mit Lula an der Spitze, stehen die Zeichen auf Verständigung. Ein schneller Erfolg wäre ohne Zweifel ein früher Meilenstein dessen Regierung.
Innenpolitisch mag Lula vor großen Herausforderungen stehen, außenpolitisch findet er sich in einer komfortablen Position. Im Wesentlichen dürfte seine Regierung die bisher eingeschlagene Politik weiterverfolgen – dabei aber wesentlich erfolgreicher als Bolsonaro agieren.