WIEN. Österreichs Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) hat nach den Korruptionsvorwürfen gegen Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) dessen Handlungsfähigkeit in Frage gestellt. „Der Eindruck ist verheerend, der Sachverhalt muß lückenlos aufgeklärt werden“, teilte Kogler am Donnerstag mit. „Wir können nicht zur Tagesordnung übergehen, die Handlungsfähigkeit des Bundeskanzlers ist vor diesem Hintergrund in Frage gestellt. Wir müssen für Stabilität und Ordnung sorgen.“
Kogler und Grünen-Fraktionschefin Sigrid Maurer würden deshalb die Fraktionsvorsitzenden der anderen Parteien im Nationalrat zu Gesprächen über das weitere Vorgehen einladen. Außerdem sei ein Termin bei Bundespräsident Alexander van der Bellen vereinbart worden. Die Opposition hatte am Mittwoch geschlossen Kurz’ Rücktritt gefordert.
Gestern wurde eine Anordnung zu Hausdurchsuchungen in der ÖVP-Parteizentrale, dem Finanzministerium und dem Bundeskanzleramt öffentlich. Darin wurde mutmaßlich korruptes Verhalten des engsten Umfeldes von Bundeskanzler Sebastian Kurz dokumentiert. (1/5)
— Werner Kogler (@WKogler) October 7, 2021
Zuvor hatte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen Kurz und die ÖVP das Bundeskanzleramt in Wien, die Parteizentrale, das Finanzministerium sowie weitere Büros durchsucht. Neben Kurz stehen neun weitere Personen im Verdacht, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Es gehe um den Vorwurf der Untreue, der Bestechung und der Bestechlichkeit. Gegen den Kanzler wird bereits wegen einer mutmaßlichen Falschaussage in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß ermittelt.
Wer aus Österreichs Regierungsteam aktuell beschuldigt wird, Straftaten begangen zu haben.
Ein Thread.
— Christoph Schattleitner (@Schattleitner) October 6, 2021
Vorwurf: Berichterstattung gegen Anzeigen
Die Staatsanwaltschaft geht dem Verdacht nach, daß zwischen 2016 und 2018 Gelder des ÖVP-geführten Finanzministeriums verwendet wurden, um parteipolitisch motivierte und teils manipulierte Umfragen zu lancieren. Die Umfrageergebnisse wurden demnach ohne als Anzeigen deklariert worden zu sein im redaktionellen Teil von Medien der Gruppe „Österreich“ veröffentlicht. Im Gegensatz dazu soll die Unternehmensgruppe Anzeigen und Medienkooperationen erhalten haben.
Bis 2017 war Kurz Außenminister, ehe er im Mai des Jahres die ÖVP-Spitze übernahm und bei den Neuwahlen 2017 die Partei zum klaren Wahlsieg führte. Seit Anfang 2020 regiert die ÖVP zusammen mit den Grünen. Der ÖVP-Chef wehrt sich gegen die Anschuldigungen. „Auch diesmal sind es wieder konstruierte Vorwürfe mit derselben Systematik. Es werden immer SMS aus dem Kontext gerissen, um daraus einen strafrechtlichen Vorwurf zu konstruieren.“ Es gebe kein Indiz dafür, daß er verantwortlich sei, welche Anzeigen oder Umfragen im Finanzministerium in Auftrag gegeben worden seien.
Er könne auch nicht nachvollziehen, warum „immer ich schuld sein soll“, wenn irgendwo Unrecht geschehe. Der Kanzler könne „zu 1.000 Prozent ausschließen“, daß er Scheinrechnungen für Umfragen gestellt oder erhalten habe beziehungsweise auf eine andere Art und Weise darin involviert sein könnte. Die Vorwürfe richteten sich zu allererst an die Mitarbeiter des Finanzministeriums.
Bundespräsident van der Bellen sagte laut der Nachrichtenagentur Reuters am Rande einer Festveranstaltung im Zusammenhang mit den Razzien: „Wir sind heute Zeugen eines doch sehr ungewöhnlichen und schwerwiegenden Vorgangs geworden.“ Es gelte, sich auf die Fundamente des Rechtsstaats zu besinnen. (ls)