Für gewöhnlich setzt die Geschichtsklitterung erst Jahrzehnte nach den historischen Ereignissen ein. Die Umschreibung der Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland anläßlich des 60. Jahrestages des Anwerbeabkommens durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist so ein Fall.
Nun macht sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron daran, die jüngere europäische Geschichte in seinem Sinne zu deuten. Am Mittwoch abend lobte er die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihrem Besuch dafür, daß sie Europa trotz aller Erschütterungen in vielen Jahren zusammen gehalten habe.
Das kann man so sagen, wenn einige nicht unwesentliche Entwicklungen in Europa ausspart. So war es Merkel im Verbund mit dem damaligen französischen Präsidenten Nikolas Sarkozy, die durch die Änderung des Lissabon-Vertrages in Großbritannien den Wunsch nach dem Brexit aufkommen ließ. Als die Briten im Juni 2016 an die Wahlurnen gingen und für den Austritt aus der EU stimmten, hatte das Thema durch die von Merkels Asylpolitik befeuerte Flüchtlingskrise zusätzlich Fahrt aufgenommen. Die Folgen sind bekannt.
Merkels Flüchtlingspolitik spaltet Europa
Überhaupt war es Merkels Umgang mit den Migrantenströmen, der Europa bis heute spaltet. Ihre platte Rhetorik von „wir schaffen das“, über „dann ist das nicht mehr mein Land“ bis „jetzt sind sie halt hier“ sorgten nicht nur innerhalb Deutschlands für gesellschaftliche Konflikte zwischen ihren Anhängern und Gegnern, sondern auch auf internationaler Ebene. Im September hatte Merkel ihr Vorgehen vom Sommer 2015 erneut verteidigt und dabei betont, die schwerste Situation ihrer Amtszeit sei jedoch die Eurokrise gewesen. Da habe sie den Bürgern Griechenlands sehr viel zugemutet.
Bis heute streiten die EU-Staaten über eine Verteilung der Migranten. Die Staaten der sogenannten Balkanroute und die Visegrad-Länder Polen, Tschechien, Ungarn und Slowenien sind alles andere als gut auf die „Refugees welcome“-Politik aus Berlin zu sprechen.
Jubelnde Massen begrüßen Merkel
Wenn Merkel etwas auf europäischer Ebene gelungen ist, dann einen neuen Graben zwischen Ost und West aufzureißen. Darüber können die warmen Worte Macrons inklusive Verleihung des Großkreuzes der französischen Ehrenlegion nicht hinwegtäuschen. Daß Merkel bei ihrem Besuch in Burgund von jubelnden Menschen mit „Vive Mutti“-Rufen empfangen wurde, rundet die Inszenierung ab.
Bienvenue à Beaune, chère Angela.
Frankreich liebt Dich! pic.twitter.com/aFvmvPvMgm— Emmanuel Macron (@EmmanuelMacron) November 3, 2021
Wenn schon auf den letzten Metern von Merkels Amtszeit von ausländischen Regierungschefs an ihrer Heldengeschichte gewerkelt wird, was mögen Historiker erst in einigen Jahrzehnten über ihr Wirken schreiben?