Weißrußland erlebt am heutigen Sonntag die größten Massendemonstration seiner Geschichte. Das ganze Land ist auf den Beinen, es ist die größte Freiheitsbewegung, die Europa in den vergangenen Jahrzehnten gesehen hat. Ob in der Hauptstadt Minsk oder in Grodno, Mogilew, Witebsk, Baranowitschi, Schlobin, Bobruisk, Gomel, Mosyr, Polozk, Molodetschno, Orscha, Kobrin, Braslaw, Stolbzy, in Kleinstädtchen wie Wysokoe oder Iwazewitschi oder Wolozhin. Die Protestierer aller Regionen eint ein Ziel: der Rücktritt des abgewählten Präsidenten Alexander Lukaschenka und freie Wahlen.
Zur Stunde strömen in der Innenstadt von Minsk weit mehr als 100.000 Menschen zusammen. Zum ersten Mal seit 1994, dem Jahr, als Lukaschenka zur Macht kam, zeigt der staatliche Sender BT1 die Demonstranten. Sie fordern unter anderem die Freilassung Tausender politischer Gefangener und die Aburteilung der Verantwortlichen für die blutige Niederschlagung der friedlichen Demonstrationen in Minsk und anderen Städten vor einer Woche, für Folter an willkürlich Verhafteten.
Scenes from Smaliavichy, a small town just northeast of #Minsk, #Belarus.
If the yet to be named Belarusian revolution of 2020 has a face, this face is female.
Totally amazing!
— Alex Kokcharov (@AlexKokcharov) August 15, 2020
Die Demonstranten zeigen in Massen die historische weißrotweiße Landesfahne
Die Menschen gehen bei phantastischem Hochsommerwetter auf die Straße. Sie zeigen in Massen die historische weißrotweiße Landesfahne mit dem Wappen des Pahonja, eines berittenen schwertschwingenden Ritters, die Lukaschenka 1995, kaum daß er die Macht ergriffen hatte, wieder durch nur leicht abgewandelte Symbolik aus Sowjetzeiten ersetzen ließ. In der Altstadt von Grodno ruft eine unübersehbar große Menschenmenge „Lukaschenka geh weg!“, in Brest rollen Demonstranten eine mehr als hundert Meter lange weißrotweiße Fahne aus, desgleichen in Pinsk. In Orscha reitet eine Frau unter dem fröhlichen Johlen der Menge auf einem Pferd, die Fahne hochgestreckt.
"Put Lukashenko in a paddy wagon!" pic.twitter.com/IcCdCyVM2T
— Tadeusz Giczan (@TadeuszGiczan) August 16, 2020
In Baranowitschi, in Nowopolozk, in Gomel und vielen weiteren Städten sind die Fahnen vor den Rathäusern bereits mit den historischen Flaggen bestückt. Aus Hunderten Autos tönt ein Lied des russischen Megarockstars der 80er Jahre, Frontmann der legendären Undergroundband „Kino“, Viktor Zoj: „Pjerjemjen!“, zu deutsch: „Veränderungen“. Dutzende kurze Videoclips, die über Telegram-Kanäle verbreitet werden und Demonstrationen in allen Regionen zeigen, sind mit diesem Stück unterlegt: „In unserem Lachen, in unseren Tränen und im Pulsieren unserer Venen – Veränderungen, wir warten auf Veränderungen!“ Es ist zur Hymne des nationalen Erwachens der Weißrussen geworden.
Jetzt gehen auch Menschen auf die Straße, die vorher apolitisch waren
Wohin man auch guckt – die bisher als apolitisch und konfliktscheu geltenden Bürger des neuneinhalb Millionen Einwohner zählenden Landes scheinen noch nie so vereint gewesen zu sein wie in diesen Tagen. Die blutige Niederschlagung der friedlichen Demonstrationen in Minsk und anderen Städten nach der gefälschten Präsidentenwahl vom vergangenen Sonntag hat auch Menschen auf die Straße getrieben, die sich vorher nicht für Politik interessiert haben – weil man ja scheinbar doch nichts machen konnte. So schien es bis vor kurzem.
Belarus Freedom march is the largest gathering in Belarus history! pic.twitter.com/2SwS59qfLS
— Franak Viačorka (@franakviacorka) August 16, 2020
Jetzt rufen sie überall den Schlachtruf: „Wir glauben, wir können, wir werden siegen“, dazu immer und immer wieder: „Zhywje Belarus!“ – es lebe Weißrußland. Zum ersten Mal seit den neunziger Jahren streiken die Belegschaften von Dutzenden Betrieben im ganzen Land, schwerpunktmäßig in Minsk und Brest. Die Arbeiter des weltgrößten Kaliproduzenten Belaruskali in Soligorsk sind in den Ausstand getreten, die Angestellten des Minsker Traktorenwerks MTZ ebenso.
Nach und nach kommt das Ausmaß der Grausamkeiten ans Tageslicht
Erst nach und nach kommt das ganze Ausmaß der Grausamkeiten von Sonntag, Montag und Dienstag ans Tageslicht. Polizei und Sondereinheiten haben in den berüchtigten Durchgangsgefängnissen Akrestina in Minsk, Zhodino, Brest und anderen wahre Gewaltorgien unter den eingesperrten Demonstranten angerichtet. Die, die es überlebt haben, berichten von unaufhörlichen Schlägen mit Schlagstöcken, Knochenbrüchen an Armen und Beinen, ausgeschlagenen Zähnen, bewußtlos Geprügelten, tagelanges Stehenmüssen in vollgestopften Zellen ohne Essen und nur gelegentlich Wasser. Heimlich aufgenommene Fotos und Videos aus den Innenhöfen von Minsker Polizeistationen zeigten lebend wie übereinander gestapelt daliegende Verhaftete.
Noch immer sind Tausende inhaftiert. Heute wurde in der südöstlich gelegenen Großstadt Gomel unter großer Anteilnahme der Bevölkerung ein junger Mann beerdigt: Alexander Wichor war am vergangenen Sonntag in der Stadt unterwegs, als er von der Polizei von der Straße weg verhaftet und im Schnellverfahren zu zehn Tagen Haft verurteilt wurde. Zwei Tage später starb er in Polizeigewahrsam, unter noch nicht aufgeklärten Umständen.
Eine besonnene Freiheitsbewegung
Um den abgewählten Noch-Staatspräsidenten ist es innerhalb einer Rekordgeschwindigkeit sehr einsam geworden. Mit Bussen und Sonderzügen ließ der Gewaltherrscher am Sonntag aus allen Landesteilen Soldaten in Zivil und Lehrkräfte aus den Schulen herbeibringen. Trotz Drohungen, Urlaubsgewährung und Einmalzahlungen waren es bedeutend weniger Bürger, zu denen Lukaschenka vor dem Sitz der Regierung dann sprach.
Sie versammelten sich unter der Lukaschenka-Flagge und – der roten Fahne der Kommunistischen Partei. Auch sinistre Warnungen vor dem Einmarsch russischer Truppen verfangen nicht. Die Demonstranten im ganzen Land skandieren weder antirussische noch prowestliche Losungen. Von der Besonnenheit der Freiheitsbewegung zeugt auch: Die allgegenwärtigen Lenin-Denkmäler werden nicht angerührt. Provokationen gegenüber Rußland kämen Lukaschenka sehr gelegen. Aber den Gefallen tut das Volk ihm nicht.