Videoclips zeigen eine für weißrussische Verhältnisse nie dagewesene Brutalität: Miliz und die berüchtigten Omon-Sondereinheiten prügeln Passanten mit Gummiknüppeln krankenhausreif, verhaften Minderjährige am hellichten Tag von der Straße weg, martialisch bewaffnete Omon-Leute schießen mit Hartgummigeschossen auf unbewaffnet demonstrierende Menschen. Sie schießen wahllos auf die Fensterreihen von Wohnhochhäusern. Sie stoppen Autos, zerren die Fahrer heraus, werfen sie ins Gefängnis. Viele tausend Menschen sind bereits eingesperrt worden, von manchen gibt es keine Nachricht.
Aus den Polizeigefängnissen in Minsk dringen nachts die Schreie der Gefolterten, dazu das dumpfe Geräusch unaufhörlich niedersausender Knüppel. Entlassene junge Frauen berichten, daß Lukaschenkas Schergen sie mit Gewalt entkleideten und ihnen mit Gruppenvergewaltigung und dem Tod drohten. Es hat schon Tote gegeben. Wohlgemerkt: Diese Bilder erreichen uns nicht aus China und Nordkorea, sondern aus Europa, auf der Türschwelle der Europäischen Union. Zwischen Minsk und Berlin liegt eine Entfernung wie etwa zwischen Flensburg und Garmisch.
Brutalste Gewalt auf der Türschwelle der EU
Brutalność OMONu przeraża białoruskich lekarzy, gdyż szpitale są przepełnione rannymi pic.twitter.com/6b14IoRl99
— Andrzej Poczobut (@poczobut) August 13, 2020
Mit der abermaligen unverschämten Fälschung der jüngsten Präsidentenwahl vom vergangenen Sonntag hat der so brutale wie ordinäre Alleinherrscher Aleksander Lukaschenka, der sich über Frauen, Covid-19-Tote und Arbeitslose im Staatsfernsehen lustig macht, den Bogen überspannt. Jeder, der mit den Fälschungsmechanismen im Land vertraut ist, weiß, daß die Wahlergebnisse für jedes einzelne Wahllokal im voraus festgelegt sind, ganz egal, wie die Bürger wählen. Die 80 Prozent Zustimmung, in denen der Autokrat sich diesmal sonnen wollte, hatten jedoch mit der Wechselstimmung, die in der Luft lag, nicht das geringste zu tun. Seine Machtbasis liegt nur noch im brutalen Sicherheitsapparat, im KGB (ja, der Geheimdienst heißt dort noch so), in korrupten Ministerien und abhängigen Verwaltungen.
Die Oppositionsführerin Swjatlana Zichanouskaja hat die Wahl haushoch gewonnen, dafür sprechen eine ganze Reihe von Indizien. Eine repräsentative Telefonumfrage des Instituts Gallup vom Juli ermittelte 65,4 Prozent für die 37jährige, der Amtsinhaber kam auf nur 8,4 Prozent. Fotos aus Wahllokalen, in denen ehrlich ermittelt wurde, zeigen den Stapel von Wahlzetteln für Zichanouskaja, der doppelt so hoch ist wie der von Lukaschenka. Auf Versammlungen in den staatlichen Großbetrieben in mehreren Städten bekennen sich komplette Belegschaften dazu, für Zichanouskaja gestimmt zu haben.
Doctors in #Mogilev are walking out with pictures of all wounded protests who were brought to them depicting their horrible wounds recieved through beatings, stun grenades and rubber bullets. #Belarus pic.twitter.com/nDirfOdgIY
— Belarus Free Theatre (@BFreeTheatre) August 13, 2020
Im ganzen Land gehen die Bürger den sechsten Tag in Folge auf die Straßen. Jetzt, auch in dieser Stunde. Das ist neu. Nicht mehr nur in der Hauptstadt Minsk wie früher, sondern dezentral, spontan, in sämtlichen Bezirken, in Großstädten, in Regionalzentren, auf dem Land. Arbeiter streiken. Die Forderungen des Volkes sind einfach: Freie Wahlen, Freilassung aller politischen Gefangenen, Rückkehr zur Verfassung von 1994 vor den Lukaschenka-Manipulationen.
Friedlicher, unbewaffneter Protest
Sie gehen friedlich auf die Straßen, unbewaffnet, bemerkenswert diszipliniert. Es gibt weder Plünderungen noch Zerstörungen. Bilder aus Minsk und Brest zeigen Frauen und Mädchen an den Straßen stehen, Blumen in der Hand, mit dem Ruf „Es lebe Weißrußland!“ auf den Lippen. Die Menschen zeigen die historische weißrussiche Nationalflagge, offiziell gültig zwischen 1991 und 1995, bevor Lukaschenka sie wieder durch die Fahne aus Sowjetzeiten ersetzen ließ. Wie könnten gerade wir Deutschen uns nicht an den glorreichen Herbst 1989 erinnert fühlen, als die Menschen in der DDR ihre Angst verloren!
Peaceful demonstration continues in Minsk https://t.co/z9WEXhq7LK via @mkbelarus #Belarus pic.twitter.com/yLxoqbTTeg
— Liveuamap (@Liveuamap) August 13, 2020
Fragt man Weißrussen, was heute anders ist als vor zehn Jahren, so bekommt man dreierlei zur Antwort. Lukaschenko hat die sozialen Netzwerke unterschätzt. Eine neue, junge Generation vernetzt sich über Messengerdienste. Wenn sich die Bevölkerung früher nach außen angepaßt verhielt und nur in der Küche beim Tee über Mißwirtschaft, Korruption und politische Rechtlosigkeit schimpfte, so zeigen Fotos und Videos jetzt in Echtzeit: Wir sind mit unserer Meinung nicht allein, und hey, so wie ich denke, denken zehntausend andere auch!
Zweitens hat sich der Präsident in seiner Haltung zu Frauen und in der Corona-Krise zum Fremdschämen blamiert. Erst leugnete Lukaschenka rundweg, daß es überhaupt eine Gefahr gibt, dann behauptete er, daß das Virus mit Wodkatrinken und Treckerfahren zu bekämpfen wäre, und später, daß jeder, der an Covid-19 stirbt, selbst schuld sei. Über Frauen zog der Staatschef mit chauvinistischen Tiraden her, die jeder Beschreibung spotten. Dabei sind 55 Prozent der weißrussischen Wähler weiblich.
Die Kraft für Reformen der Nach-Lukaschenka-Zeit wächst
Drittens, und das scheint für die Zukunft des Staates am wichtigsten, haben die Weißrussen in den Jahren der Diktatur zu sich selbst als Volk gefunden. Der Druck hat sie vereint und stark gemacht. Zur Stunde laufen Tausende Demonstranten in der Innenstadt von Minsk zusammen und rufen „Einiges Land, einiges Volk!“ und „Freiheit! Freiheit!“ Anders als die baltischen Nationen konnten die Bürger zwischen Brest und Orscha mit der Unabhängigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion noch nichts anfangen. Das Nationalbewußtsein war gering ausgebildet, Erfahrung mit der Demokratie gab es keine, ein starker Demagoge hatte leichtes Spiel. Die älteren, denen noch der Krieg in den Knochen steckte, waren mit der Garantie von Ruhe und Stabilität zu ködern: „Hauptsache, es ist kein Krieg“ war ein geflügeltes Wort.
EU-Europa steht heute wie im Kreißsaal und blickt ungläubig-sprachlos auf die Geburt einer Nation. In den friedlichen Protesten, den unendlichen Hupkonzerten, in der Solidarität mit den willkürlich Verhafteten, im Ablegen der lähmenden Angst, im Bewußtsein, ganz viele zu sein, wächst die Kraft für die notwendigen Reformen der Nach-Lukaschenka-Zeit.
Denn eines ist heute schon klar. Wenn wir zukünftig von Weißrußland sprechen, werden wir nicht mehr von Lukaschenka reden müssen. Der Diktator ist moralisch und politisch ein toter Mann, er hat keine Zukunft mehr. Sein Platz ist in Den Haag.