TRIPOLI. „Wie sollten wir glücklich sein?“, fragt Ibrahim, ein junger Mann mit muskelbepacktem Oberkörper. „In Syrien und Ägypten werden Muslime abgeschlachtet. In Afghanistan werden wir gedemütigt. Und die ganze Welt haßt uns, sodaß wir nicht mal eine Chance haben, in den Westen einzureisen, um Geld zu verdienen.“ Der 31jährige, sanft auftretende sunnitische Mohammedaner mit Spitznamen „Bobzy“ hat sich mithilfe der Übersetzung von Liedern aus dem Netz selbst die englische Sprache beigebracht.
Immer wenn er rechtzeitig aufstehe arbeite er bei einem Sicherheitsdienst in Beirut. Heute Abend haben er und die Kumpels sich bei „Killer“ zusammengefunden, einem 36jährigen Betreiber einer Netzstube im nordlibanesischen Tripoli. Die Mittelmeerstadt mit ihren 500.000 Einwohnern ist die zweitgrößte des Zedernstaates – und für ihre angespannte Lage berüchtigt.
Gewalt gehört zum Leben dazu
Heute Nacht sind es jedoch nicht Kämpfe zwischen der sunnitischen Mehrheit und den Alawiten, welche für Aufruhr sorgen. Beim lautstarken Feuerlärm diverser Maschinengewehre einige Straßenzüge weiter soll es sich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei sunnitischen Familien handeln. Die Finsternis des jüngsten Stromausfalls rundet das Bild ab. „Killer“, der in Wirklichkeit Mohammed heißt, lässt mich die Nacht in seinem Laden verbringen. Ebenso wie einen molligen Jüngling aus dem syrischen Aleppo, der von seiner Familie getrennt worden ist.
Ein gutes Dutzend junger Männer ist anwesend – und nimmt die Ereignisse mit Achselzucken zur Kenntnis. Sie rauchen am laufenden Band – und spielen Kriegsszenarien an den Rechnern. Ibrahim spekuliert: „Wenn jemand auf der Straße ein böses Wort zu einer fremden Frau sagt, dann wird sie das ihren Brüdern berichten. Die werden dann ihre Waffen holen und auf das Wohnhaus der betreffenden Familie feuern.“
In diesem Fall jedoch, so erzählt man sich am Folgetag, soll ein Mann einen anderen in einem Lokal im Streit erschossen haben. Die Familie, der Blutrache verpflichtet, habe Vergeltung geübt. Vier Verletzte hätten die Auseinandersetzungen zur Folge gehabt. Armee und Gendarmerie haben sich offensichtlich herausgehalten.
„Du kennst unsere Gesellschaft nicht“
„Du kennst unsere Gesellschaft nicht“, sagen die neuen Freunde der improvisierten Unterkunft lachend. Um das eigene Denken und Empfinden gehe es nie, sondern ausschließlich darum, was das Kollektiv wolle. „Wenn die Gruppe, der man angehört, eine Entscheidung trifft, müssen alle mitziehen“, berichtet „Killer“. Den Libanesen, so ist er überzeugt, werde es schon bald gelingen, die syrischen Gewaltexzesse noch zu übertreffen. Ibrahim sagt: „Früher waren Messerstechereien unsere größte Sorge. Aber seit dem Aufstand in Syrien ist der gesamte Libanon mit Schusswaffen aufgerüstet worden.“
Ab 1.800 US-Dollar könne man eine solche übrigens erstehen. Daß in Europa keineswegs jeder Mann im Besitz von Kampfgeräten ist, ist für Ibrahim trotz seines täglichen Ausflugs ins weltweite Netz eine Neuigkeit. Er bekennt aus tiefstem Herzen: „Ich liebe Waffen.“ Sie gehörten zum Mann-Sein dazu. Und schließlich habe sich „der Prophet Mohammed“ auch als Kämpfer bewährt. Hätte er mehr Geld, so sagt Ibrahim, würde er sich seine ganze Wohnung mit Kriegsgerät vollstellen. Im Moment jedoch müsse er sich mit einem einfachen Gewehr begnügen, für das er sogar eine Lizenz habe. Die libanesische Autorität verbiete es neuerdings jedoch trotzdem, die Schießgeräte unterwegs dabei zu haben.
Die Antwort auf das Leben ist der Tod
Der Frust ist zum Greifen nah. Viele haben keine Arbeit. Und selbst bei Ibrahim und „Killer“ hat es bis heute nicht zum Heiraten gereicht. Letzterer muss dazu noch geheimnisvolle Altlasten mit der Regierung klären. Warum er einst monatelang in Geheimdiensthaft saß – darüber schweigt er sich aus.
Bücher werden grundsätzlich nicht gelesen. Ihren Müll schmeißen die Leute auf die Straße. Uriniert wird in allen Ecken. Staub und Dreck liegen in der Luft. Die Verhältnisse passen schlecht zu einem in aller Welt verstreuten Handelsvolk. Schuld sei die Regierung. Aber ein wenig auch die Gesellschaft. Schließlich, so Ibrahim, folge die nicht mehr dem wahren Islam: „Mohammed, Allahs Segen auf ihm und Frieden, sagt uns, daß der Haß kommen wird und daß die Frauen körperbetont umherlaufen werden. Ich werde so wuschig, wenn ich solche Namensmuslima sehe, die zwar Kopftuch tragen, aber wo ansonsten alles zu sehen ist.“
Die Ereignisse in der islamischen Welt sind für Ibrahim Zeichen der Endzeit: „Ein Engel wird das Horn zum Jüngsten Tag blasen, und alle Muslime werden sofort sterben. Nur wer Allah und seinem Gesandten nicht gefolgt ist, wird den qualvollen Untergang der Welt miterleben müssen.“