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Die gescheiterte Kleptokratie

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Die gescheiterte Kleptokratie

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Das schlimmste Erdbeben seit 1770 hat in dem Karibikstaat Haiti Hunderttausende Tote gefordert und die Hauptstadt Port-au-Prince, wo mehr als ein Viertel der gut neun Millionen Einwohner leben, in ein Trümmerfeld verwandelt. Daß Haiti, an der Spalte von Karibischer und Nordamerikanischer Erdplatte gelegen, regelmäßig von schweren Naturkatastrophen getroffen wird, hat geographische Gründe. Das apokalyptische Ausmaß der Heimsuchungen ist in dem ärmsten Land auf der westlichen Erdhalbkugel indes zu einem Gutteil selbstverschuldet: Haiti ist ein gescheiterter Staat ohne tragende Gesellschaft, der über die längste Zeit seiner mehr als zweihundertjährigen Unabhängigkeit hinweg von blutrünstigen Tyrannen und größenwahnsinnigen Kleptokraten beherrscht wurde.

Die europäische Kolonialherrschaft begann mit der Landung des Christoph Kolumbus auf der Insel Hispaniola 1492. Nach Ausrottung der Ureinwohner importierten die Spanier seit Anfang des 16. Jahrhunderts afrikanische Sklaven; Frankreich, das 1697 den Westteil der Insel in Besitz nahm, errichtete in der von Klima und Natur begünstigten Landschaft eine prosperierende Plantagenwirtschaft. Sklavenaufstände brachten 1804 dem französischen Westen Hispaniolas die Unabhängigkeit; der Osten folgte vierzig Jahre später und bildet heute die bei Pauschalurlaubern beliebte Dominikanische Republik.

Sklavenbefreiung und Landreform trugen bereits den Keim des wirtschaftlichen Niedergangs Haitis, das noch dazu Frankreich für die enteigneten Latifundien mit hohen Zahlungen entschädigen mußte. Die freigelassenen Afrikaner betrieben auf den parzellierten Plantagen Subsistenzwirtschaft; aus Landnot setzte die wachsende Bevölkerung die unter den Franzosen begonnene Abholzung der tropischen Regenwälder fort. Deren Fehlen ist ein Grund dafür, daß die Hurrikans des letzten Jahrzehnts von verheerenden Überschwemmungskatastrophen begleitet wurden und die Landwirtschaft faktisch darniederliegt.

Die in drei Kolonialjahrhunderten umgekrempelte Bevölkerungsstruktur erwies sich als schwere Hypothek; es fehlte an einer breiten gebildeten und wirtschaftlich wie politisch aktiven Schicht. 95 Prozent der Haitianer sind Nachfahren meist westafrikanischer Sklaven, knapp fünf Prozent sind Mulatten, weniger als ein Prozent der Haitianer sind Weiße. In Kuba und der Dominikanischen Republik, die von Weißen bzw. Mulatten dominiert werden, sind hingegen nur rund zehn Prozent der Einwohner Schwarze.

Bereits der Unabhängigkeitserkämpfer Jean-Jacques Dessalines (bis heute Namenspatron der Nationalhymne), erwies sich als größenwahnsinniger Potentat, der sich zum Kaiser Jakob I. krönte. Haitis berüchtigtster Gewaltherrscher des 20. Jahrhunderts, der Landarzt François „Papa Doc“ Duvalier, hetzte systematisch Schwarze gegen Mulatten auf.

Duvalier – er herrschte von 1957 bis zu seinem Tod 1971 – und sein Sohn Jean-Claude „Baby Doc“, der weitere 15 Jahre an der Macht blieb, gehören zu den langlebigsten der bisher 60 Präsidenten. Ihr anfangs von den USA gestütztes Regime, von Graham Greene in dem 1967 verfilmten Roman „Die Stunde der Komödianten“ beschrieben, ist ohne den schwarzen „Voodoo-Kult“ nicht zu verstehen. Die Duvalier-Terrortruppe „Tontons Macoutes“ („Onkelchen Menschenfresser“) traten als unbesiegbare „Zombies“ auf; „Papa Doc“ selbst stilisierte sich zum unersättlichen Voodoo-Totengott „Baron Samstag“.

Auch der Hoffnungsträger Jean-Bertrand Aristide, ein katholischer Priester der „befreiungstheologischen“ Richtung, der 1990 bis 1991 und – mit amerikanischer Hilfe – von 1994 bis 1996 sowie 2001 bis zum wohl ebenfalls von den USA ermunterten Putsch 2004 die Macht übernahm, erwies sich als kleptokratischer Gewaltherrscher, der sich auf eine sinnigerweise Chimères (Gespenster) genannte Wiedergängertruppe der Tontons stützte und Voodoo zur anerkannten Religion machte. Voodoo ist Haitis Fluch; obwohl mehr als die Hälfte der Haitianer offiziell katholisch sind, praktizieren bis zu vier Fünftel den synkretistischen, auf westafrikanische Zauberriten zurückgehenden Kult. Im Blick darauf hat Brasilien nach dem Erdbeben sogar Hilfe beim Bau eines Voodoo-konformen Friedhofs angeboten.

Apathie, Ausbeutung und Gewaltherrschaft haben Haiti zum gescheiterten Staat ohne funktionierende Strukturen gemacht. Für den Aufbau von Zivilschutz, Verkehr oder Gesundheitssystem, die in Kuba oder der Dominikanischen Republik relativ gut funktionieren, fehlt es weniger an Mitteln als am Willen. Abermilliarden von Hilfsgeldern, die in den letzten Jahren ergebnislos versickert sind, haben daran nichts geändert; der „humanitäre Zirkus“ der Entwicklungshelfer als Dauerzustand hat vielmehr die Passivität und Gewöhnung an fremde Hilfe noch verstärkt.

Haiti hat eine korrupte Polizei und keine Armee, die öffentliche Ordnung liegt weitgehend in den Händen der Uno-Blauhelme, der amtierende Präsident René Préval, ein früherer Gefolgsmann Aristides, erscheint hilflos. Wer in diesem Land etwas bewirken will, kommt nicht umhin, direkt Verantwortung zu übernehmen. Das mit einiger Verzögerung angelaufene massive Engagement der USA deutet in diese Richtung. Es wäre nicht die erste Intervention der Amerikaner in dieser Ecke ihres „Hinterhofs“, den sie bisher vor allem als strategische Position und billigen Absatzmarkt benutzt haben. Ob am Ende diesmal funktionierende staatliche Strukturen stehen werden, steht auf einem anderen Blatt.

Foto: Hilfesuchende Haitianerinnen: Apokalyptische Heimsuchungen

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