Das schwere Erdbeben in den Abruzzen mit Hunderten Toten, zahlreichen Verletzten und Zehntausenden Obdachlosen hat ein anderes brisantes Thema vor Ostern aus den Schlagzeilen verdrängt: Ohne Unterlaß starten von der afrikanischen Küste aus Boote mit illegalen Zuwanderern Richtung Italien. Hauptziel ist die Mittelmeerinsel Lampedusa. Nichts vermag die Einwanderungswelle aufzuhalten, weder die kalte und stürmische See noch die verstärkten Radarkontrollen auf dem Meer oder die häufigen Schiffsuntergänge mit manchmal Hunderten Toten. Eine ganze Generation aus Nigeria, Ghana, Benin, Mali oder Senegal ist auf der Suche nach einem besseren Leben in der Festung Europa.
Lampedusa, das von Tourismus und Fischerei lebt, gerät immer wieder in die Schlagzeilen: ein ständig überfülltes Auffanglager, Massenflucht – und immer wieder Proteste der Inselbewohner, die um ihre Existenz bangen. Zu Ostern waren viele Hotels und Pensionen leer; die Touristen bleiben angesichts des Flüchtlingselends fort. Denn trotz Schnellbootpatrouillen und Hubschrauberüberwachung wurden 2008 etwa 37.000 Illegale hier registriert. Und allein in ersten drei Monaten dieses Jahres sind bereits weitere 15.000 eingetroffen.
Warum sie nach Italien drängen, machte eine Caritas-Umfrage deutlich: „Italien ist das Land, in das man am leichtesten hineingelangt“, meinten die Einwanderer und: „Italien ist das Land der größten Gastfreundschaft.“ Hinzu kommt die Zuwanderung aus Südosteuropa. Dazu schwelt das Problem der Chinesen, das – wegen deren anderer Mentalität – bisher eher im Hintergrund blieb. Italien gab sich als einstiges Auswanderungsland immer tolerant gegenüber Fremden, schien wie ein Schwamm, der die Fremden nicht nur anzog, sondern auch aufsog. Doch nun scheint das „Paradies“ verdorben, und der Traum vom besseren Leben, von der Fluchtmöglichkeit aus den Zwängen der Armut in ein neueres, reicheres Leben hat erhebliche Risse bekommen. Denn zum ersten Mal scheint es, daß es in Italien so etwas wie eine „Rassenfrage“ gibt. Das Land hat sich verwandelt. Angesichts der globalen Krise haben sich nicht nur die Spannungen verschärft, auch die soziale Bombe tickt immer lauter. Tag für Tag kommt es zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen im Land.
Nachdem in der Hauptstadt im Februar ein 63jähriger Hausmeister von einem jungen Ehepaar aus Rumänien ermordet und zerstückelt wurde, geht die Angst unter den Römern um. Als dann noch mehrere Frauen in Parks vergewaltigt wurden und die Täter immer aus Rumänien stammten, verschärfte sich die Debatte in Italien über öffentliche Sicherheit und Ausländerkriminalität generell und über vermeintliche „Rumänen“ insbesondere. Nach Schätzungen hält sich mehr als eine Million aus Rumänien stammender Personen in Italien auf – ein Großteil gehört mutmaßlich zur Zigeunerminderheit. Seit dem EU-Beitritt 2007 hat sich der Zustrom von dort um 83 Prozent erhöht.
Inzwischen greifen manche Bürger zur Selbsthilfe. Es kommt immer wieder zu spontanen Protestmärschen, „Ausländer raus“ heißt es in den römischen Vorstädten. Molotow-Cocktails wurden gegen rumänische Geschäfte geschleudert, türkische Kebab-Buden wurden beschädigt. Biedere Hausfrauen fesselten sich in Rom am hellichten Tag im Vorstadtviertel Tiburtina an Eisenketten, um bei der Stadtverwaltung gegen das existierende Roma-Lager zu protestieren. „Wir sind es leid, Tag für Tag in Angst vor Diebstählen und Raubüberfällen zu leben“, klagte eine robuste Römerin. Rumänische Bischöfe protestierten gegen „die Verunglimpfung eines ganzen Volkes“. Selbst die Bettler in den Straßen von Rom erleben den Rassenkonflikt am eigenen Leibe: „Bin Italiener in Not und kein Rumäne“, stand kürzlich auf einem Schild. In gewissen Vierteln trauen sich Farbige nicht mehr allein auf die Straße, nachdem italienische Jugendliche Jagd auf sie machten. In der toskanischen Stadt Lucca gibt es neue gastronomische Auflagen: Verboten sind Kebab und Couscous in den Restaurants – „gastronomischer Rassismus“, empörten sich linke Kommunalbeamte.
Zwar warnen Politiker vor Selbstjustiz. Doch angesichts der sich häufenden Gewaltverbrechen durch Ausländer verabschiedete die Regierung Berlusconi eine „Notverordnung zur Sicherheit“, mit der die Einrichtung von Bürgerwehren (Ronde) faktisch legalisiert wurde. Es handelt sich aber nicht um bewaffnete Streifen, sondern um Freiwillige, ehemalige Carabinieri oder Polizisten ohne Waffen, die nun im ganzen Land in den Stadtvierteln Kontrollgänge unternehmen und das Gefühl von Sicherheit verbreiten sollen. Der frühere Lega-Nord-Minister Roberto Calderoli nannte die Ronde „so notwendig wie die Ambulanzen in den Städten“.
Mit Erschrecken stellt die italienische Gesellschaft fest, daß in den größeren Städten ganze Stadtteile zu Ghettos wurden, in denen eine fremde oder sich fremd fühlende Bevölkerung lebt. Es kommt auch immer wieder zu Zusammenstößen innerhalb dieser neuen Zuwanderergesellschaften, vor allem unter den Chinesen – und die Polizei scheint machtlos. Andererseits könnte die italienische Volkswirtschaft ohne die Schwarzarbeit der Illegalen nur schwer ihre hohe Produktivität halten. Für die Tomatenernte in Kampanien werden fast nur Farbige eingestellt; für die Produktion von Lederwaren in der Toskana dagegen vor allem eingeschleuste Chinesen.
Alarmiert durch die jüngsten Ereignisse erklärte Innenminister Robert Maroni (Lega Nord), daß Italien und Libyen ab 15. Mai mit gemischten Patrouillen zur Unterbrechung des Flüchtlingsstroms beginnen. Doch es ist ungewiß, ob die Libyer sich tatsächlich voll an die Verträge halten – zudem scheiterte eine gesetzliche Verlängerung der Internierungszeit für Illegale auf sechs Monate. Vor Ostern fehlten 83 Regierungsabgeordnete bei der Abstimmung.
Foto: Boot mit Illegalen in Lampedusa: „Wir sind es leid, in Angst vor Diebstählen und Überfällen zu leben“