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Trügerische Ruhe

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Die Kaukasusregion Tschetschenien ist schon seit längerem aus den großen Schlagzeilen der Medien verschwunden. Das war bereits vor dem „Olympiakrieg“ um das benachbarte Südossetien im August so, obwohl dieser nur kurz währte und bei weitem nicht so viele Opfer kostete wie die beiden bis heute fortwirkenden Tschetschenienkriege in den Neunzigern. Doch in Tschetschenien ist die Situation allenfalls auf den ersten Blick friedlich. Alle Versuche der Machthaber in Grosnij und Moskau, die Lage als normal und entspannt zu charakterisieren, sind Augenwischerei. Die Wahlen vom 12. Oktober, die Ramsan Kadyrow und die vom ihm geführte regionale Gliederung der Kreml-Partei „Einiges Rußland“ eine 88,4-prozentige Zustimmung brachten, waren eine Farce. Zwar stimmt es, daß der militärische Widerstand der Unabhängigkeitskämpfer weitgehend gebrochen werden konnte, seitdem die legitimen Präsidenten und die Feldkommandeure der in den Neunzigern für wenige Jahre eigenständigen Republik Itschkerija von russischen Spezialtruppen reihenweise liquidiert wurden. Doch die Freiheitsträume und Islamisierungsbestrebungen eines großen Teils der Bevölkerung bestehen fort. Die anti-russischen Kräfte haben angesichts ihrer militärischen Unterlegenheit nur die Strategie gewechselt. Statt auf offenen Kampf setzen sie nun auf die Infiltrierung der vom Kreml eingesetzten regionalen Machtstrukturen einschließlich der offiziellen Truppen der Teilrepublik, in deren Reihen zahlreiche ehemalige Widerstandskämpfer stehen. Der im Londoner Asyl lebende einstige Vizepremier Tschetscheniens, Achmed Sakajew, lobte vor wenigen Monaten ausgerechnet den einst so verhaßten Moskauer Statthalter Kadyrow, der sich 2007 zum Präsidenten küren ließ, und deutete die Möglichkeit einer Versöhnung an: „Dank Kadyrow und der tschetschenischen Miliz gibt es heute keine harten Säuberungen durch die russischen Truppen mehr, bei denen sonst immer Dutzende Menschen verschwanden.“ Im Vergleich zu 2001 bis 2003 habe sich die Situation „kardinal gewandelt“. Laut Sakajew bereite der Untergrund „einige wichtige Dokumente“ vor, die dazu dienen sollen, daß es in Zukunft nicht mehr zu Zusammenstößen zwischen tschetschenischen Partisanen und regulären Polizisten komme. Man bemühe sich darum, eine „Tschetschenisierung“ des Konflikts zu verhindern. Andererseits gebe die von Kadyrows Leuten ausgeübte Schutzfunktion seinen Kämpfern mehr Freiraum für Aktionen gegen die russischen Besatzer, so Sakajew, der in England die tschetschenische Exilregierung führt. Während sich die eigenen Kommandos früher darüber Gedanken machen mußten, ob sie eine Kolonne nahe einer Siedlung angreifen sollten, die nach einer solchen Aktion schwere Repressionen zu erwarten gehabt hätte, könnten sie heute ihre Schläge ausführen, wo sie wollten. Der „Prozeß der Dekolonisierung“ Tschetscheniens sei bereits abgeschlossen, betonte Sakajew, auch wenn die Republik weder de jure noch de facto unabhängig sei. Kadyrow untermauert seinen regionalen Führungsanspruch vor allem durch eine mehrere tausend Mann starke Privatarmee. Außerdem stellte er wiederholt die unbeschränkte Gültigkeit der russischen Gesetze für die Teilrepublik in Frage, etwa wenn er die Freigabe des Waffenbesitzes und die Zulassung der Polygamie verlangte. Auch russische Beobachter machen mit Blick auf den einst so fügsamen Helfershelfer einen schleichenden Prozeß der Loslösung aus. Nach Meinung Andrej Babizkis, eines Tsche­tschenien-Experten bei Radio Swoboda, errichtet Kadyrow abseits der formellen Loyalitätsbekundungen ein „geschlossenes, von außen nicht steuerbares politisches System, das gegen russische Einflußnahme immun ist“. Der Konflikt besteht aber längst nicht mehr nur zwischen russischen Großmachtzielen und national-kaukasischen Abwehrversuchen, sondern wird zunehmend von den Machtansprüchen des Islam überlagert. Im Herbst 2007 ist es zu einem Bruch in der Untergrund-Regierung gekommen, als deren Oberhaupt Doku Umarew ein „Kaukasisches Emirat“ ausrief und unter dem grünen Banner den Kampf gegen Rußland von der Frage der tschetschenischen Unabhängigkeit abkoppelte. Das selbsternannte Emirat des früheren Chefs des Tschetschenischen Sicherheitsrates umfaßt unter anderem die „Vilayets“ Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan, Ossetien und Kabardino-Balkarien. Die tiefgreifenden Folgen für den Nordkaukasus und darüber hinaus sind noch gar nicht absehbar. Selbst Zweckbündnisse der nichtmoslemischen Rebellen mit den Russen gegen die Vorkämpfer der islamischen Weltherrschaft sind denkbar. Die meisten Osseten sind orthodoxe Christen, nur 15 bis 20 Prozent sind Muslime. Die Abasinen verteidigten schon unter den Osmanen jahrhundertelang ihren Glauben an die armenisch-gregorianische Apostelkirche. Selbst den Georgiern dürfte ein Scharia-Gebiet an ihrer Nordgrenze langfristig wenig gelegen kommen (JF 18/08). Dies läßt die geplanten Verwaltungsreformen Moskaus im Nordkaukasus in anderem Licht erscheinen. Die diskutierte Reduzierung der nordkaukasischen Teilrepubliken von heute sieben auf vier könnte sich als heikel erweisen. Denn die Wiedererrichtung der 1991 beendeten autonomen Föderation von Tschetschenen und Inguschen dient sicherlich nicht vorrangig der Minimierung von Sicherheitsrisiken im Vorfeld der Winterolympiade in Sotschi 2014. Auch die bessere Bekämpfung der in Inguschetien untergetauchten tsche­tschenischen Rebellen und anderer islamistischer Kämpfer im Rahmen einer gemeinsamen Teilrepublik ist als Erklärung nicht hinreichend. Obwohl der Berater von Präsident Dmitri Medwedew, Oleg Goworun, erklärte, daß „die Gerüchte über eine Vereinigung der Tsche­tschenischen Republik und Inguschetiens jeglicher Grundlage entbehren“, geht es Medwedew und Premier Wladimir Putin wohl darum, den immer eigenmächtiger handelnden Kadyrow mit der Drohung einer Verwaltungsreform wieder auf Kurs zu bringen und einen zweiten Fall Kosovo zu verhindern. Doch Kadyrow dürfte seine Teilentmachtung nicht tatenlos hinnehmen; und die Untergrundkämpfer in beiden Regionen würden im Zuge der Umstrukturierungen eher an Bedeutung gewinnen. Internet-Plattform der tschetschenischen Islamisten: www.kavkazcenter.com/eng/ Foto: Tschetschenischer Präsident Kadyrow: Ein von außen nicht steuerbares politisches System errichtet

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