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Sicherheitspolitischer Realitätsschock

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Die Trümmer in Manhattan rauchten noch, als die Bundesregierung unter Gerhard Schröder am 19. September 2001 ihr erstes „Anti-Terror-Paket“ beschloß. Darin eingeschlossen waren im Strafgesetzbuch die Erweiterung des Verbots terroristischer Vereinigungen auf ausländische Organisationen, die Streichung des sogenannten Religionsprivilegs im Vereinsrecht, zusätzliche Sicherheitsüberprüfungen für Flughafenmitarbeiter sowie eine erhebliche Aufstockung der Mittel für die äußere und innere Sicherheit. Ein Jahr darauf, im Dezember 2001 verständigte sie sich auf das „Anti-Terror-Paket II., das erweiterte Handlungsmöglichkeiten für die Geheimdienste, den Bundesgrenzschutz (heute Bundespolizei) und das Bundeskriminalamt umfaßte. Veränderungen in den ausländerrechtlichen Vorschriften sollten die Einreise verdächtiger Personen erschweren und die Ausweisung erleichtern, weiterhin wurden die Aufnahme biometrischer Daten in Reisepässe sowie die Wiedereinführung der Rasterfahndung besiegelt. Unter dem zusätzlichen Eindruck eines am 5. Januar 2003 über Frankfurt schwebenden Sportflugzeuges beschloss das deutsch Parlament zudem in aller Eile ein Luftsicherheitsgesetz. Es sah vor, unter Umständen auch eine entführte Passagiermaschine durch die Luftwaffe abschießen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht war es, welches das Luftsicherheitsgesetz aufhob und auch die Befugnisse der Sicherheitsdienste bei der Rasterfahndung wieder zurückstutzte. Es verwies darauf, daß auch in extremen Situationen der Mensch nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden dürfe. Das absolute Recht jedes Einzelnen auf Leben und körperliche Unversehrtheit dürfe nur aufgrund eines eigenen Verhaltens eingeschränkt werden, nicht aber, wenn er selbst Opfer einer Entführung geworden sei. Eine Objektivierung des Entführten als Teil der Waffe sei durch das Prinzip der Achtung der Menschenwürde
ausgeschlossen. Das gelte eben auch, wenn der Betroffene bei ungehindertem Geschehensablauf als „Todgeweihter“ ohnehin sterben würde. Das sind Essentialen des deutschen Rechtes. Erstaunlich und abermals bedrohlich ist die Leichtfüßigkeit, mit der Minister, Beamte und Parlamentarier sich im Angesicht der bloßen Möglichkeit einer Bedrohung darüber hinwegsetzten. Dieselbe Bedenkenlosigkeit waltete etwa bei der Umsetzung des Europäischen Haftbefehls. In mehreren Schritten hob unser Parlament mit Zwei-Drittel-Mehrheit den absoluten Auslieferungsschutz für deutsche Staatsangehörige auf. Es gestattete zunächst eine Auslieferung an Internationale Gerichtshöfe und schließlich auch eine „Auslieferung auf Anfordern“, also ohne nähere rechtliche Prüfung, an Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Auch dieses Gesetz wurde vom Verfassungsgericht im Ganzen aufgehoben und ist in abgemilderter Form erneut auf dem Gesetzgebungsweg. Unterdessen hat sich das deutsche militärische Engagement im Ausland permanent verstärkt. Zu nennen ist der Einsatz in Afghanistan, welcher sich schrittweise ausweitet. Dazu zählt auch die – mit Ausnahme der Entsendung von Soldaten – fast uneingeschränkte Unterstützung der amerikanischen Kriegführung im Irak. Jüngst wurden Soldaten der Bundeswehr in den Kongo entsandt. Eine weitere Entsendung in den Libanon steht allem Anschein nach unmittelbar bevor. Der bayerische Innenminister Günther Beckstein spricht ganz offen darüber, daß ein Bundeswehreinsatz im Nahen Osten die Terrorgefahr in Deutschland signifikant erhöhen werde. Hierauf und auf die beinahe geglückten Terroranschläge auf deutsche Regionalzüge im Juli reagiert die Bundesregierung wiederrum mit einer verschärften Überwachung der Kommunikation, einer verstärkten Video-Überwachung an Verkehrsknoten und dem erweiterten Datenaustausch zwischen Sicherheitsdiensten mit Hilfe einer „Anti-Terror-Datei“. Die seit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks unübersichtlicher gewordene Weltlage, die neue Qualität der terroristischen Bedrohung und die nolens volens zunehmende Verstrickung Deutschlands in internationale Konflikte zwingen die Bundesrepublik, ihre Sicherheitsinteressen und die Strategie zu deren Schutz neu zu definieren. Dieser Prozeß ist schon seit den neunziger Jahren im Gang. Damals wurden politische, ökonomische und auch ökologische Probleme weltweit in den erweiterten Sicherheitsbegriff aufgenommen. Ebenso wurde die Verhinderung der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen zum Schwerpunkt deutschen Sicherheitsinteresses erklärt. Nach 2001 sind der internationale Terrorismus und die Gefahr massenhafter Flüchtlingsströme aufgrund regionaler Krisen stärker in den Fokus gerückt. Verteidigungsminister Franz Josef Jung legt demnächst ein „Weißbuch der Bundeswehr“ vor, in dem er diese konzeptionelle Neubestimmung fortsetzen will. Darin hebt er auch das deutsche Interesse am Schutz der Handelswege und des freien Zugangs zu strategischen Rohstoffen hervor. In der Konsequenz dieser Entwicklung liegt auch die Neubestimmung des Verhältnisses zu den Verbündeten Deutschlands, etwa den Vereinigten Staaten und Israel, deren Politik un unmittelbar Rückwirkungen auf deutsche und europäische Sicherheitsinteressen hat. Die Diskussion darum ist unausweichlich. Zur Disposition steht auch das Ordnungskonzept des Demokratieexportes, der etwa in Palästina ganz andere Kräfte an die Macht führt, als die Architekten dieser Politik sich wünschen. Es steht auch in skandalösem Widerspruch zur Unterstützung autoritärer Regime, die ebendiese populären Kräfte unterdrücken. Foto: Ein entführtes Kleinflugzeug kreist am 5. Januar 2003 über Frankfurt am Main: In aller Eile beschlossenes Luftsicherheitsgesetz

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