Wir sind hier in Europa, nicht auf einem Teppichmarkt.“ Gut möglich, daß der lu-xemburgische Außenminister Jean Asselborn sein Europabild demnächst revidieren muß. Mit seiner Bewertung des „provozierenden und aggressiven“ Auftretens des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdogan während der Auseinandersetzung um das EU-Angebot für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen war der luxemburgische Diplomat nicht allein. Vorsichtigere sprachen von notwendigen „Lernprozessen“, die die Türkei noch durchmachen müsse; das sei „kein Fall für den Psychologen, sondern für den Psychiater“, entfuhr es einem Genervteren. Beim „levantinischen Geschacher“ (Beobachter-Jargon) um die Zypernfrage hat der Brüsseler Club sich von seinem Möchtegern-Neumitglied regelrecht vorführen lassen. Weniger turbulent, dafür um so mühseliger hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs in der Nacht zum Freitag ihr Verhandlungsangebot an die Türkei formuliert, das einmal mehr die überlieferte Diplomatenregel, „die Grundlage des Kompromisses ist der Dissens“, eindrucksvoll bestätigte. Die auf acht Seiten zusammengetragenen Bedingungen und Willenserklärungen fordern unter anderem die tatsächliche Umsetzung der bisher vor allem auf dem Papier bestehenden politischen Reformen in der Türkei. Dazu kommen verschiedene Übergangsbestimmungen, Ausnahmeregeln und Schutzklauseln, mit denen sowohl die EU zeitweise oder permanent die Türkei von bestimmten Politikbereichen wie der Arbeitnehmer-Freizügigkeit ausschließen, aber auch die Türkei sich in verschiedenen Bereichen, etwa der Agrarpolitik, der vollen Unterwerfung unter das EU-Reglement entziehen kann. Als Beginn der Verhandlungen wurde der 3. Oktober 2005 festgelegt, pikanterweise der deutsche Nationalfeiertag. Auch bei zügigem Abschluß der Gespräche soll ein Beitritt nicht vor 2014 möglich sein – heißt es von offizieller EU-Seite. Der größte Dissens zwischen den Staats- und Regierungschefs bestand in der Frage, ob ergebnisoffen oder mit dem alleinigen Ziel der Vollmitgliedschaft zu verhandeln sei. Im Angebot stand beides: Die EU legt sich von vornherein auf den Beitritt der Türkei als Vollmitglied fest; im Falle des Scheiterns der Gespräche solle die Türkei „in den europäischen Strukturen verankert“ bleiben. Die von CDU und CSU propagierte „privilegierte Partnerschaft“ war damit endgültig vom Tisch. Der türkischen Delegation reichte diese Selbstfesselung der europäischen Seite nicht. Wohl um die Standfestigkeit der Verhandlungspartner insgesamt auszutesten, provozierte Erdogan noch in der Nacht zum Freitag einen wohlkalkulierten Eklat. Die Forderung, ein Protokoll über die Ausweitung der Zollunion von 1996 auf die neuen EU-Mitglieder noch in Brüssel zu paraphieren und damit zumindest indirekt Griechisch-Zypern anzuerkennen, erklärte er für unannehmbar und drohte mit Abreise; sein Flugzeug sei auch nachts um vier noch startklar. Die EU „ziehe 600.000 Zyprer den 70 Millionen Türken vor“, setzte Erdogan die europäische Runde unter Druck. Bis in den Freitagnachmittag hinein wurde intensiv und mit großer „verbaler Brutalität“ verhandelt, so daß für manche Beobachter der Eindruck entstand, nicht die Türkei wolle der EU beitreten, sondern umgekehrt. Nach zähen Verhandlungen, in deren Verlauf er nochmals mit Abreise drohte, preßte Erdogan der EU schließlich das Zugeständnis ab, den Beitrittsaspiranten dem bereits aufgenommenen Mitglied vorzuziehen. Der türkische Premier mußte lediglich mündlich erklären, die Türkei werde in den kommenden Monaten an der Anerkennung Zyperns arbeiten. Die völkerrechtswidrige Besetzung Nordzyperns war dabei kein Thema mehr. Den europäischen Staats- und Regierungschefs hatte Erdogan damit einen Vorgeschmack darauf gegeben, was sie von einem EU-Vollmitglied Türkei zu erwarten haben. Der beschwichtigende Hinweis, Erdogan habe diese Frage zur Gesichtswahrung hochspielen müssen, ändert wenig an der schwachen und hilflosen Vorstellung der EU. Ohne jegliche feinfühlige Zwischentöne feierten denn auch Erdogans Anhänger bei dessen Ankunft auf dem Istanbuler Flughafen ihren Ministerpräsidenten als den „Eroberer der EU“ und als „neuen Stern Europas“. „Wir haben der Türkei eine Tür geöffnet“, erklärte der „oft wie ein Honigkuchenpferd grinsende“ (FAZ) Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Unwahrscheinlich, daß die Türkei ihren Fuß aus dieser geöffneten Tür freiwillig wieder herauszieht. Während die europäischen Granden, voran Frankreichs Präsident Chirac, mit Rücksicht auf ihre Wählerschaften auf Zeit spielen und ohne genaue Vorstellungen über das zu erreichende Ziel den Beitrittsprozeß begonnen haben, hat der türkische Ministerpräsident sehr präzise Ziele und ist offenkundig gewillt, zu ihrer Durchsetzung den Druck weiter zu erhöhen. Was sonst noch an Bedingungen und Hausaufgaben formuliert wurde, dürfte Erdogan, der sein wichtigstes Ziel – den Termin für den Verhandlungsbeginn – erreicht hat, kaum schrecken: Die EU hat in der Zypernfrage gezeigt, daß mit ihr alles verhandelbar ist, auch diplomatische Selbstverständlichkeiten wie die Anerkennung der bisherigen „Clubmitglieder“. Daß die EU zur völkerrechtlichen Beliebigkeit neigt, hat sie im Falle Polens und Tschechiens in der Frage der Vertreibungsdekrete hinlänglich bewiesen. Eine zusätzliche Ermutigung dürfte das Exempel der Kandidaten Rumänien und Bulgarien sein. Die Staats- und Regierungschefs haben unter Aufweichung der gesetzten Standards die Beitrittsgespräche mit diesen Ländern für abgeschlossen erklärt – im Fall Rumäniens, das gravierende Mängel unter anderem im Wettbewerbsrecht und bei der Korruptionsbekämpfung aufweist, gegen die ausdrückliche Empfehlung der Kommission. Dagegen wird Kroatien – das einzige katholische Land unter allen derzeit gehandelten Beitrittskandidaten – trotz des für März 2005 vorgesehenen Verhandlungsbeginns wegen seiner angeblich unvollständigen Kooperation mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal weiter hingehalten. Niemand wird wohl Bundeskanzler Gerhard Schröder widersprochen haben, als er von einer „Entscheidung von ungeheurer Tragweite“ sprach. Der diplomatische Dissens liegt in der Auslegung als Segen oder Katastrophe. Für die Anhänger der letzteren Interpretation gibt es immerhin eine Ausstiegsoption, die fast wörtlich aus der Kommissionsempfehlung vom 6. Oktober übernommen wurde. Demnach kann die Kommission „von sich aus oder auf Antrag von einem Drittel der Mitgliedstaaten die Aussetzung der Verhandlungen empfehlen“, falls eine „schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Werte … Freiheit, Demokratie, Wahrung der Menschenrechte und der Grundrechte sowie Rechtsstaatlichkeit“ festgestellt wird. Die europäische Preisfrage der nächsten Jahre wird lauten, ob jemand den Mut findet, diese Notbremse zu ziehen. Anhänger von Premier Erdogan begrüßen ihr Idol bei der Rückkehr vom EU-Gipfel: Die türkische Verhandlungsdelegation setzte ihre Interessen mit viel Geschick um – die EU machte viele Zugeständnisse
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