In der Mediengesellschaft hat sich auch der Kodex des Diplo-maten grundlegend geändert – Diskretion und Kabinettsdiplomatie sind nicht mehr gefragt. Diplomaten nehmen an „Talk-Shows“ teil, wo sie der Regierung, bei der sie akkreditiert sind, öffentliche Zensuren erteilen. Oder sie schreiben Zeitungsartikel, wie neulich der deutsche Botschafter in Estland. In der Zeitung Eesti Päevaleht erteilte Jürgen Dröge der Tallinner Regierung unverblümt Ratschläge und drückte sein Mißfallen darüber aus, daß sich Estland – gemessen an Berliner und Brüsseler Anforderungen – noch immer nicht genügend mit europäischem Bewußtsein angereichert habe. Der Aufsatz des Botschafters hat in Estland wie eine Bombe eingeschlagen. Der populäre Eesti Ekspress sprach von einer „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ Estlands – womöglich sogar auf Anweisung der deutschen Bundesregierung. Hätte Botschafter Dröge den Artikel eigenmächtig verfaßt, so meint der Eesti Ekspress, dann wäre er von seinem Posten abberufen „und günstigstenfalls in die Mongolei“ versetzt worden. Was Dröge seinen estnischen Gastgebern vorwirft, widerspricht der bisherigen Einstufung als vorbildlicher EU-Kandidat. Die Rolle, welche Estland künftig in der EU zu spielen wünsche, sei „noch nicht deutlich erkennbar“. So stünden einige estnische Positionen zur künftigen EU-Verfassung im Widerspruch zur deutschen Haltung, weil Estland für jedes EU-Mitglied einen Kommissar als „Garantie der Gleichwertigkeit“ aller Mitglieder verlange, während Deutschland die Zahl der EU-Kommissare reduzieren wolle. Außerdem mache ihm „Sorgen“, daß in Estland immer wieder die Forderung auftauche, einen „Schlußstrich unter den Prozeß der Integration“ zu ziehen – als sei mit dem Beitritt Estlands das Maximum an europäischer Integration erreicht. Der Botschafter machte dann klar, daß es kein Ende der Integration geben könne. Man könnte sich fast an Leo Trotzkis Lehre von der „permanenten Revolution“ erinnern – jetzt wird hingegen die „permanente Integration“ praktiziert. Was den deutschen Botschafter und seine Dienstgeber erzürnt, ist das Festhalten der Esten an ihrem Nationalstaat, den sie mit so vielen Opfern und nach Jahrzehnten der Unfreiheit wiedergewonnen haben. Diese Esten hätten bis jetzt nicht verstanden, daß die EU mehr sei als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Die Sorge, ihre Identität zu verlieren, wischt Dröge mit der Bemerkung vom Tisch, Luxemburg habe ja auch in der EU seine Identität nicht eingebüßt. Die Frage, wie identisch denn das heutige Luxemburg noch ist – und ob das finanzstarke Großherzogtum nicht ganz anders dasteht als die postkommunistischen Aufnahmekandidaten -, wird gar nicht erst gestellt. Statt dessen wird Estland in schulmeisterlichem Ton davor gewarnt, in die Rolle des „Neinsagers“ geraten. Der Fall Estland geht alle EU-Kandidaten und darüber hinaus alle kleineren EU-Staaten an. Die Furcht der Esten wird auch von anderen geteilt: So erklärte der Prager Präsident Václav Klaus unlängst, die Tschechei könnte sich in der EU auflösen wie „ein Stück Zucker in der Kaffeetasse“. Aber auch Deutschland steht vor einem Dilemma: Soll es gemeinsam mit Frankreich Großmachtpolitik betreiben und die Wünsche und Ängste der „Kleinen“ ignorieren – oder sollte es sich nicht doch zum Fürsprecher jener Völker machen, die bisher im Schatten leben mußten?