Plattenbauten. Das ist so ein Wort, das, wenn es einfach nur so hingeschrieben ist, bereits allerlei Assoziationen auslöst. Vor vielen inneren Augen werden sicherlich Bilder entstehen, wie sie der Focus kürzlich aus der Universitätsstadt Göttingen präsentierte: hohe Müllberge im Hof und in den Fluren, kaputte Fahrstühle und eingetretene Türen. Die Groner Landstraße 9 gelte als einer der „schlimmsten Wohnblöcke“ Deutschlands, informierte das Blatt; ein Video soll sogar zeigen, wie Bewohner aus einem Fenster nach Ratten angeln.
Das ist nur ein Beispiel, welches verdeutlicht, wieso der Ruf so vieler Plattenbausiedlungen schlecht ist. Es liegt nicht bloß an der industriellen Bauweise, sondern an den Mietern, speziell wenn sich die Quartiere ob ihrer Bewohner zu sozialen Brennpunkten entwickeln. Östlich der Elbe, also in der früheren DDR, hatte man bis 1990 andere Assoziationen. Wer sich Postkarten oder Fotoalben des untergegangenen Staates ansieht, sieht teilweise Anklänge für Plattenbauromantik – Familien, die zwischen den Wohnblöcken ihre Kinderwagen schieben, der Beton kontrastiert mit frisch gepflanztem Grün.
Prinzipiell ist die Entstehungsgeschichte beider Formen der Platte gleich. In der Nachkriegszeit erlebte Deutschland einen Bevölkerungsboom, zeitgleich waren große Teile des Wohnraums durch Bombardierungen zerstört worden. Beide Systeme, Sozialismus und Kapitalismus, sahen sich dementsprechend gezwungen, massenhaft angefertigte Trabantenstädte aus dem Boden zu stampfen. Während die Hochhausviertel im Westen jedoch für ärmere Bevölkerungsschichten gedacht waren – und bereits früh das Image des „sozialen Brennpunkts“ entwickelten – galten die DDR-Neubausiedlungen als begehrtes Luxusgut. Die ab 1972 gebaute Wohnbauserie 70 (WBS 70) bot eine Zentralheizung, Innentoiletten und fließendes warmes Wasser, ein Luxus von dem jeder, ob Schichtarbeiter, Ingenieur oder Arzt, träumte.

Zeitweise tricksten die Erbauer
Das Wohnungsbauprogramm des Ostens richtete sich zuerst an Familien. Vater, Mutter, zwei Kinder – die WBS 70 sah auf jeder Etage zwei Vier-Raum-Wohnungen vor: Wohnzimmer, Schlafzimmer, zwei Kinderzimmer, Küche, Badezelle und einen Verschlag im Keller. Und der Bau ging schnell. Die Platten, genau 26 Zentimeter dick und aus zwei Schichten Beton, dazwischen eine Kerndämmung, bestehend, waren in der Herstellung extrem günstig. Die Produktion war zudem witterungsunabhängig, da sie in Hallen stattfand.
Zeitweise mußte getrickst werden. Als die Genossen mit der Zeit merkten, daß sie mit der geplanten Bauweise, nicht die bei einem Parteitagsbeschluß festgelegte Anzahl an Neubauten erfüllen würden, änderten sie die Zuschnitte. Zunehmend wurden Ein-Raum-Wohnungen ohne Balkon in die Platte integriert, was die Zahl der als vollendet gemeldeten Einheiten in die Höhe schnellen ließ. Auch trickste das Bauministerium. Um Sechsgeschosser ohne Fahrstuhl bauen zu können, wurden diese als Fünfgeschosser plus eins bezeichnet.
Ebenso fehlte den Neubauvierteln häufig noch lange die Infrastruktur. Straßenbauer und Landschaftsgärtner konnten mit dem Tempo der Bauarbeiter, die vor Ort die Platten zusammensetzten, nicht mithalten. Wer beispielsweise in Berlin-Marzahn, Leipzig-Grünau, Halle-Neustadt oder Dresden-Gorbitz einen Plattenbau zugewiesen bekam, stiefelte monatelang glücklich in Gummistiefeln durch den Schlamm. Auch Kaufhallen, Kinderkombinationen, Schulen, Sporthallen, Arztpraxen, Jugendclubs und Wohngebietsgaststätten entstanden erst nach und nach.
Nach der Wende zogen viele weg
Nach der Wende wurde dann auch die Ostplatte zum Brennpunkt. Arbeitslosigkeit, marode Bausubstanz und Jugendgewalt machten die ehemaligen Vorzeigesiedlungen unsicher, Fernsehberichte über Skinheadbanden und ausländerfeindliche Ausschreitungen taten ihr übriges. Die Altbauten in den Stadtmitten von Berlin und Leipzig, zu DDR-Zeiten aufgrund der zugigen Wohnungen – oft ohne Heizung – und unpraktischer Hygieneverhältnisse – Toiletten auf dem Gang –, alles andere als begehrter Wohnraum, wurden in den 90er Jahren hingegen nach und nach saniert.
Mit dem Ergebnis, daß, wer es sich leisten konnte, aus der Platte dorthin zog. Wer allerdings blieb, konnte langfristig erleben, daß nicht nur die Fassaden isoliert und bunt angestrichen, sondern Fahrstühle angebaut wurden – bei immer noch erschwinglichen Mieten. Leerstand gibt es kaum. Voraussetzung ist allerdings, daß nicht eine Komplettsanierung stattgefunden hat, der eine völlig neue Mieterklientel folgte – wie es etwa in Berlin und mehreren Städten Thüringens geschah.
Möglicherweise könnte die Platte zudem bald eine unverhoffte Renaissance erleben. Aktuell spricht die Politik in Deutschland längst wieder von Wohnungsnot (JF berichtete). Es fehlen zwischen 550.000 und 1,2 Millionen Wohnungen, laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung sogar „fast zwei Millionen günstige Wohnungen“. Und bisher konnte weder der SPD-Kanzler noch sein CDU-Nachfolger ein Wohnungsbauprogramm anschieben.
Erlebt der Plattenbau eine Renaissance?
Lediglich rund 250.00 Wohnungen wurden 2024 gebaut, 14,4 Prozent weniger als 2023. Die durchschnittliche Dauer zwischen Baugenehmigung und Fertigstellung hat sich nicht etwa verkürzt, sondern seit 2020 um sechs Monate verlängert. Da hilft nicht einmal industrielles Bauen, als eine aus der Not heraus geborene Spielart der Architektur der Moderne.
Theoretisch wäre es möglich, haben Bauexperten ausgerechnet, ein aus vorgegebenen Modulen bestehendes Gebäude genehmigungsfähig, bauantragsreif, baufertig und mit allen Informationen über Bauteile und Details, CO2-Speicher und Grundstücksauslastung innerhalb von weniger als zwei Minuten am Computer zu erstellen und anschließend in einer automatisierten Fertigungshalle produzieren zu lassen – eine Wohneinheit innerhalb einer Stunde, also ein 32-Familienhaus innerhalb von 32 Stunden und es in maximal zwei Monaten vor Ort aufzustellen – aber dagegen steht die deutsche Bürokratie. Baugenehmigungen gibt es selbst für genormte Gebäude nicht als Serie.
Die entsprechende Nostalgiewelle ist jedenfalls bereits vorhanden. Nicht nur erwecken hochwertig aufgemachte Coffee-Table-Books wie „Plattenbau Berlin: Urbane Wohnarchitektur. Ein fotografischer Rundgang“ die Lust auf brutalistische Wohngebiete wieder zum Leben, im Internet zelebrieren Fotoaccounts einen wehmütigen Kult um die alte Bauweise. Ob die in Nebel getauchten Wohnblöcke Jena-Lobedas oder die in der Sommerhitze flirrenden Hinterhöfe Berlin-Marzahns – die Platte scheint ihren Schrecken verloren zu haben.





