Ashoka Mody lehrte als Ökonom an der Universität Princeton. Zuvor hatte er als Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) den Austritt der früheren D-Mark-Zone aus dem Euro befürwortet. Der Leser kann also zu Recht spannende unorthodoxe Einsichten erwarten.
Indien wird heute mit 1,4 Milliarden Einwohnern als größte Demokratie der Welt und Teil der neuen alternativen Wachstumsallianz der BRICS-Staaten hochgejubelt. Doch Mody gelingt es mit einer sehr profund recherchierten und dokumentierten Wirtschaftsgeschichte seit der Unabhängigkeit von 1947, den Lack des nur für Außenstehende glänzenden indischen Wirtschaftswunders sehr gründlich abzukratzen. Und dabei sind keineswegs die britischen Kolonialherren, wie heute ungeprüft stets wiederholt wird, an allem Übel Schuld.
Im Gegenteil, sie hatten die indische Textilindustrie, die ihre Blütezeit Ende des 19. Jahrhunderts erlebte, statt sie zu vernichten, noch bis zur Unabhängigkeit mit Schutzzöllen protektioniert. Freilich half auch Mahatma Gandhi mit seiner Webstuhl-Romantik ein wenig nach. Doch wurde er schon 1948 von einem Hindu-Fanatiker erschossen.
Die grüne Revolution führte zu chronischen Dürren
Mody beginnt mit den Irrungen und Wirrungen der Entwicklungspolitik nach der Unabhängigkeit von 1947, damals der Politik der Schwerindustrialisierung von Jawaharlal Nehru (1947–1964) im Namen des Sozialismus, der lieber Stahlhütten und Kraftwerke baute, als sich um die Volksbildung, eine vernünftige Stadtentwicklung, sauberes Wasser, das Gesundheitswesen und eine beschäftigungsintensive Leichtindustrie zu kümmern, wie dies in Japan vordem, gefolgt von Korea, Taiwan, Singapur und später China und Vietnam der Fall war.
Zwar erhöhte die grüne Revolution in den 1960er Jahren den Ausstoß der Landwirtschaft. Doch führte die Überintensivierung verbunden mit den hohen Geburtenraten auf den durch Erbteilung stets kleiner werdenden Flächen zu ländlicher Unterbeschäftigung sowie zu einer chronischen Wasserknappheit und einer Anfälligkeit für Dürren, weil die Bewässerungskanäle schlecht unterhalten wurden und der Grundwasserspiegel sank.
Indien litt jahrzehntelang unter Korruption und Instabilität

Wer in die städtischen Slums zog, den erwarteten angesichts fehlender regulärer Arbeitsplätze und mangels Qualifikationen nur prekäre Jobs im Straßenhandel, als Handlanger und Tagelöhner. Unter Nehrus Tochter Indira Gandhi (1966–1984) wurden die Banken verstaatlicht, was die Günstlingswirtschaft mit politisch vergebenen Kredite beflügelte, unter anderem für das verunglückte Maruti-Autoprojekt ihres Lieblingssohnes Sanjay, der 1980 bei einem Kunstflug verunglückte. Dieser hatte zuvor den Ausnahmezustand genutzt, um acht Millionen Zwangssterilisierungen durchzuführen. Die umfangreichen Einfuhrbeschränkungen und Gewerbelizenzen wurden von politisch verbundenen Großunternehmern genutzt, um Monopolrenditen einzustreichen und durch Korruption die Konkurrenz niederzuhalten.
Die regierende Kongreßpartei von Nehru und Gandhi war laut Mody eine Koalition opportunistischer Politiker zur Verteilung der Beute, die sich sozialistischer Rhetorik nur bediente. Unter Premier Morarji Desai vergnügte man sich nach 1977 damit, Auslandsinvestitionen wie Coca-Cola und IBM zu vertreiben, die moderneres Managementwissen gebracht hätten. Die Regierung veranstaltete Atombombentests, während die Lebenserwartung dank der hohen – vor allem weiblichen – Kindersterblichkeit bei 51 Jahren (in China zum Vergleich bei 64) und die Analphabetenrate bei 64 Prozent lagen.
Indira Gandhi wurde nach der von ihr befohlenen Erstürmung des Goldenen Tempels von Amritsar der Sikhs 1984 von zwei ihrer Leibwächter erschossen. Ihr Sohn Rajiv setzte jedoch ihre Subventionswirtschaft für Großgrundbesitzer und politische Günstlinge und die Aufblähung des öffentlichen Dienstes mit seinen Kasten-Quoten – Mody nennt sie ein „Heer parasitärer Gehaltsempfänger“ – bis 1990 unverändert fort.
Erst wirtschaftsliberale Reformen trugen Früchte
Derweil fließt das Zwanzigfache an produktiven Auslandsinvestitionen nach Deng Xiaopings Reformen nach China statt nach Indien, wo es neben dem lähmenden Bürokratismus ohnehin an Fachkräften, Wasser- und Energieversorgung, der medizinischen und der kritischen Infrastruktur fehlt und die Rupie aus Gründen des Nationalstolzes überbewertet bleibt.
Mit 45 Prozent der Bevölkerung unter der offiziellen Armutsgrenze (1,9 US-Dollar Einkünfte pro Tag) bereiteten die allgemeine Existenzangst, Unterbeschäftigung, Korruption und Bandenkriminalität den Nährboden für die Hindutva-Ideologie, die die politische und kulturelle Vormachtstellung der Hindus propagiert und die 1983 mit landesweiten Massenprozessionen Fahrt aufnahm und deren militante Jugendorganisationen sich durch politische Morde, Pogrome und Straßenschlachten hervortat, die jedoch angesichts einer unfähigen Justiz meist ungesühnt blieben.
Nach Rajivs Ermordung durch eine tamilische Selbstmordattentäterin kam es 1991 unter seinem Nachfolger P. V. Narasimha Rao (Kongreßpartei) zu zaghaften Liberalisierungen, die vor allem im IT-Sektor große Hoffnungen weckten. So begann unter den hindunationalistischen BJP-Regierungen von Atal Bihari Vajpayee (1998–2004) und dem ab 1999 starken Mann Narendra Modi das Aufblühen des IT-Sektors in den Südstaaten, aber von sonst relativ wenig, abgesehen von Spekulationsblasen im Baugewerbe, während Indiens Superreiche ihr Geld für Luxusinvestitionen ins Ausland verschoben.
Die indische IT-Branche ist ein Scheinriese
Jene IT-Branche mit ihren talentierten Software-Entwicklern beschäftigt jedoch gerade einmal 1,3 Millionen in einer Erwerbsbevölkerung von 420 Millionen, von denen die meisten weiter unterbeschäftigt als Straßenhändler, Müllwerker, Ziegeleiarbeiter, Tagelöhner und Knechte in der Landwirtschaft unter der Armutsschwelle in Slums überleben müssen. Zudem ist der IT-Sektor fast ausschließlich weltmarktorientiert. Angesichts des maroden Zustands des indischen Telekom-Netzes nützt er der einheimischen Wirtschaft mit ihren musealen Industrieruinen wenig. Die Überproduktion von schlecht qualifizierten Hochschulabsolventen mit nutzlosen Diplomen ermöglicht auch die Rekrutierung jener Tausendschaften, die in Callcentren Indien zum Weltzentrum des Internet-Betrugs gemacht haben.
Nachdem der Traum vom Überspringen des Industriezeitalters durch die IT-Revolution platzte, bemüht sich die Regierung Modi wie ihre Vorgänger um eine politisch privilegierte kapitalintensive Schwerindustrie: die Petrochemie und das Raffinieren von russischem Erdöl, Stahl, Chemie und Pharmaka, dabei vor allem minderwertige Generika. Da sie sich von Umweltauflagen freikaufen kann, ist die Luftverschmutzung, die Belastung des Grundwassers und der Flüsse durch ungeklärte Abwässer und Müll enorm. Im internationalen Vergleich ist das Niveau des Bildungssystems auf jenes des subsaharischen Afrikas abgesunken.
Indiens Großmachtträume scheinen ausgeträumt
In den Weltexporten sind selbst Vietnam und Bangladesch, die weniger als ein Zehntel an Einwohnern haben, mit ihren Leichtindustriegütern an Indien vorbeigezogen. Auf Kritik regieren Modi und die BJP in ihrer „elektoralen Autokratie“ mit Pressezensur, Razzien, Steuerprüfungen, der Propagierung ihrer Hindutva-Ideologie eines aggressiven Hindutums mit der Gewalt des leicht mobilisierbaren Straßenmobs.
Der 1956 in Indien geborene Autor, der seit 1986 in den USA lebt, hat eine vernichtende, lückenlos dokumentierte Kritik der indischen Entwicklungspolitik der letzten siebzig Jahre vorgelegt. Hoffnungen auf eine nahe Besserung sieht er kaum. Zu stark sind kriminelle Netzwerke mit der Politik verflochten, zu schlecht ist seit Jahrzehnten das Bildungssystem und die Massenarmut lähmend. Da er chronologisch Regierungszeit um Regierungszeit abarbeitet, sind Wiederholungen seiner Kritik an den wirtschaftspolitischen Fehlern aller Regierungen unvermeidlich. Das ermüdet den Leser auf die Dauer etwas. Eine synthetischere Darstellungen mit aktualisierten Langzeitstatistiken wäre hilfreicher gewesen. So oder so, angesichts jener Mißerfolgsgeschichte scheinen die Träume von der indischen Wirtschaftsweltmacht gründlich ausgeträumt.