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Buchrezension: Als die Macht des Zaren ins Rutschen kam

Buchrezension: Als die Macht des Zaren ins Rutschen kam

Buchrezension: Als die Macht des Zaren ins Rutschen kam

Auf einem alten schwarz-weiß-Foto sind bwaffnete revoltierende Soldaten und Bürger zu sehen, die grimmig gucken und auf einer Straße in Sankt Petersburg (damals Petrograd) stehen – während der Februarrevolution 1917, als der Zar gestürzt wurde
Auf einem alten schwarz-weiß-Foto sind bwaffnete revoltierende Soldaten und Bürger zu sehen, die grimmig gucken und auf einer Straße in Sankt Petersburg (damals Petrograd) stehen – während der Februarrevolution 1917, als der Zar gestürzt wurde
Bewaffnete revoltierende Soldaten und Bürger formieren sich in Sankt Petersburg (damals Petrograd), 1917. Foto: IMAGO / UIG
Buchrezension
 

Als die Macht des Zaren ins Rutschen kam

Die Zarenherrschaft in Rußland brach im März 1917 zusammen – doch war es wirklich eine Revolution oder nur eine Kettenreaktion von Mißmanagement und Fehleinschätzungen? In seinem neuen Buch „Der sterbliche Gott“ beleuchtet Jörg Baberowski die dramatischen Tage, die zur Abdankung von Nikolaus II. führten.
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In seinem im Jahr 2024 veröffentlichten großen Werk „Der sterbliche Gott“ hat Jörg Baberowski am Beispiel Rußlands in der Regierungszeit der letzten drei Zaren die Bedeutung der Macht als Grundlage von Herrschaft und die ihr stets drohenden Gefahren eindrücklich beschrieben und analysiert. Den zeitlichen Schlußpunkt dieses großen Berichts bildet die kurze Ära des Reformers Pjotr Stolypin, die mit dessen Ermordung im September 1911 endete.

Mit seinem neuen Buch gelangt der Berliner Osteuropahistoriker nun an das Ende seiner Untersuchung von „Macht und Herrschaft im Zarenreich“, zu den Ereignissen vor allem in Sankt Petersburg Ende Februar und Anfang März 1917, als die Herrschaft Nikolais II. innerhalb kürzester Frist zusammenbrach. Nach einem einführenden Kapitel „Vor dem Sturm“ ist jedes der folgenden elf Kapitel den Ereignissen jeweils eines Tages gewidmet, vom 22. Februar bis zum 3. März. Es folgen dann noch ein Kapitel „Abschied von der alten Ordnung“ (3. bis 9. März), ein Schlußkapitel „Dem Abgrund entgegen“ sowie ein „Abspann“.

Heute faßt man die Ereignisse dieses Zeitraums gewöhnlich unter dem Ausdruck „Februarrevolution“ zusammen. Tatsächlich hatte jedoch zu Anfang kaum jemand eine Revolution im Sinn.

Die Revolution war nicht geplant

Die Repräsentanten der in der Duma vertretenen bürgerlichen Opposition erhofften und erstrebten „nur“ eine grundlegende Umgestaltung des Regierungssystems, dachten nicht im entferntesten an eine Beseitigung der Monarchie, und selbst unter den bereits seit Januar vielfach streikenden Arbeitern wurde diese nicht bewußt ins Auge gefaßt.

Jörg Baberowski: „Der sterbliche Gott – Macht und Herrschaft im Zarenreich“ Jetzt im JF-Buchdienst bestellen
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Das Zarenregime, allen voran der Zar selbst, fühlte sich fest im Sattel, und so ergibt sich wie von selbst die Frage, wie es dennoch geschehen konnte, daß dieses Regime geradezu in rasendem Tempo dem Untergang entgegenging. Es ist ebendiese Frage, auf die der Autor Antworten zu finden sucht.

Sein Bericht macht klar: Von einer von Anfang an gegebenen Zielgerichtetheit des Geschehens mit einer Revolution als – vorläufigem – Endpunkt kann keine Rede sein, es hätte alles auch anders kommen können. Vielmehr war das Geschehen von Entscheidungen und Handlungen geprägt, deren verhängnisvoller Charakter sich erst später herausstellen sollte und die eine nach der anderen ein „Aufschaukeln“ bewirkten, an dessen Ende die erzwungene Abdankung des Zaren stand, die den nun mit aller Gewalt einsetzenden Untergang des alten Rußland symbolisierte.

Die Staatsmacht weicht zurück

Am Anfang stand eine Hungerrevolte, als das Regime es unterließ, die Bäckereien der Hauptstadt rechtzeitig und ausreichend mit Mehl und Heizstoff zu versorgen, obgleich es über die Möglichkeit dazu verfügte. Zu diesem Zeitpunkt traf der Zar die Entscheidung, am 22. Februar ins Hauptquartier der Armee nach Mogilew zu reisen, wodurch er nunmehr von dem Geschehen in Sankt Petersburg abgeschnitten und auf die unzureichenden, oftmals falschen Informationen angewiesen war, die ihm die Minister, allen voran der inkompetente Innenminister Alexander Protopopow, zukommen ließen.

Am nächsten Tag beginnt der Aufruhr, als im Wyborger Stadtbezirk wütende Männer und Frauen auf die Straße gehen und sich ihnen immer mehr streikende Arbeiter anschließen.  Als die Demonstranten in die Innenstadt strömen, werden ihnen Kosakeneinheiten entgegengeschickt.

Diese verweigern jedoch den Gehorsam, und so wird den Demonstranten klar, daß die Staatsmacht zurückweicht. Damit ist eine erste Eskalationsstufe erreicht. Daraufhin intensiviert sich der Aufruhr und nimmt die Gewalt zu.

Die Soldaten meutern mit

Als der Ministerrat beschließt, reguläre Truppen gegen die Demonstranten einzusetzen, rächt sich die Entscheidung, etwa 100.000 Soldaten in der Hauptstadt zu konzentrieren. Ein Regiment verweigert den Gehorsam, und dabei wird ein Offizier im Affekt von einem Soldaten getötet.

Das ist der Wendepunkt, hinter den es kein Zurück mehr gibt: Um nicht wegen dieses Mordes mit zur Rechenschaft gezogen zu werden, müssen die Soldaten ihre Kameraden in den anderen Kasernen zur Meuterei veranlassen, was ohne größere Probleme gelingt. Zahllose Offiziere werden getötet.

Jetzt ist aus dem hauptsächlich von streikenden Arbeitern geprägten Aufruhr eine Massenrevolte auch der Soldaten geworden. Die liberalen Duma-Abgeordneten, denen der Ernst der jetzt eingetretenen Situation klar geworden ist, stellen aber immer noch nur bescheidene Forderungen: Der Zar soll ein neues Kabinett einsetzen, das aus vertrauenswürdigen und populären Ministern zu bestehen hat, und er soll sich aus dem politischen Alltagsgeschäft zurückziehen.

Erst am 1. März vollzieht sich der Bruch mit dem Zarenregime

Rodsjanko, der Vorsitzende der Duma, versucht in diesem Sinne auf Nikolai II. einzuwirken, der, noch immer nur unzureichend und schlecht informiert, unfähig ist, eine kraftvolle Entscheidung zu treffen, und sich dem Fatalismus anheimgibt.

In der Hauptstadt nehmen unterdessen Plünderungen und Übergriffe einen systematischen Charakter an. Die Konstituierung eines Arbeiter- und Soldatenrats beraubt die bürgerliche Duma-Opposition der Möglichkeit, das politische Geschehen allein zu bestimmen, zumal sie noch immer davor zurückscheut, die Machtfrage in aller Kompromißlosigkeit zu stellen.

So kann sie schließlich nur ein provisorisches Duma-Komitee bilden, dessen Entscheidungen von der Haltung des Arbeiter- und Soldatenrats abhängen, zumal die meisten Soldaten von diesem Gremium, in dem Professoren und Grundbesitzer den Ton angeben, ohnehin nichts erwarten. Erst am 1. März vollzieht sich der Bruch mit dem Zarenregime und wird eine Regierung gebildet.

Im Juli 1918 wird die Zarenfamilie ermordet

Durch den „Befehl Nr. 1“, dem zufolge die Befehle des Duma-Komitees nur dann gültig sein sollen, wenn sie nicht den Anordnungen des Arbeiter- und Soldatenrats widersprechen, wird der zarischen Armee der letzte, entscheidende Stoß versetzt.  Schließlich wird der Zar, der von Mogilew aus zu seiner Familie zurückzukehren versucht, auf eine Irrfahrt geschickt, die in Pskow (Pleskau) endet, wo er dann von den führenden Militärs, die selbst von der Regierung getäuscht worden sind, gezwungen wird, die Abdankungsurkunde zu unterschreiben.

Sein Versuch, seinem jüngeren Bruder Michail den Thron zu übergeben, scheitert. Nach wenigen Tagen wird er selbst verhaftet, nach Zarskoje Selo eskortiert und dort zusammen mit seiner Familie interniert. Es folgen die Verbannung nach Tobolsk und schließlich, nach dem bolschewistischen Oktoberputsch, in Jekaterinburg in der Nacht auf den 17. Juli 1918 die Ermordung Nikolais und seiner gesamten Familie.

Dem Buch ist ein breiter Lesekreis zu wünschen

In dem Kapitel „Dem Abgrund entgegen“ und im „Abspann“ wird wie in einem Zeitraffer das politische Geschehen zwischen der Februarrevolution und dem Oktoberputsch der Bolschewiki beschrieben, als es der Provisorischen Regierung unter dem andauernden Druck der Soldaten der nunmehr völlig aufgelösten Armee nicht gelingt, dieses Geschehen zu bestimmen und sich durchzusetzen, bis sie schließlich von den Bolschewiki verhaftet wird, womit nun das alte Rußland endgültig dem Untergang geweiht ist.

Jörg Baberowskis beeindruckendem Buch, von dessen Inhalt in dieser Rezension nur eine ungefähre Vorstellung vermittelt werden kann, ist ein möglichst breiter Leserkreis zu wünschen. In ihm wird an einem geschichtlich eminent wichtigen Beispiel geschildert, wie einer Folge von Ereignissen, die als solche längst bekannt und schon oftmals beschrieben worden sind, „erzählerisch immer noch eine Wendung gegeben werden kann, in der sich das Geschehen der Vergangenheit in anderem Licht zeigt“.

Aus der JF-Ausgabe 22/25. 

Bewaffnete revoltierende Soldaten und Bürger formieren sich in Sankt Petersburg (damals Petrograd), 1917. Foto: IMAGO / UIG
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