Gegensätze in der Politik liegen oft näher beieinander, als man es für möglich hält. Nachdem man im Vertrag von Rapallo die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vereinbart hatte, fühlte Friedrich Ebert beim russischen Handelsdelegierten in Berlin, Viktor Kopp, vor, wen sich die Sowjets als deutschen Botschafter in Moskau vorstellen könnten.
Statt einer Antwort ging Kopp zum Schreibtisch des Reichspräsidenten und nahm ein Lineal zur Hand. Dann sagte er: „Sehen Sie, hier ganz links sind wir, die Bolschewiken, dann kommen die Sozialisten, in der Mitte sind die Demokraten und am anderen Ende sind die Leute von der extremen Rechten. Mit den Sozialisten und den Demokraten können Sie uns nicht zusammenbringen. Aber Sie brauchen nicht viel Druck anzuwenden“ – und damit bog er die beiden Enden des Lineals zusammen – „und wir nähern uns den Rechten. Also geben Sie uns den, mit dem wir am besten zusammenarbeiten können.“
Diese Begebenheit aus dem Frühjahr 1922 hat Historiker immer wieder dazu veranlaßt, die Schnittmenge zwischen den extremen Rändern der Politik auszuloten. Zumeist hat man dies in Form eines Systemvergleichs der totalitären Mechanismen von Faschismus und Bolschewismus versucht und ist auf analoge Ausprägungen der Herrschaftstechnik gestoßen. Man hat aber auch beide Phänomene wie kommunizierende Röhren aufeinander bezogen, um verwandte programmatische Ziele, kongruente Anhängerprofile und vor allem reziproke Wechselwirkungen herauszuarbeiten.
Der Fokus liegt auf dem NS und der kommunistischen Herrschaft
Der Weg, den Hans-Ulrich Danner in seiner anregenden und überzeugenden Studie beschreitet, die bei Hans-Christof Kraus in Passau als Dissertation entstanden ist, ist ein anderer. In innovativer Manier setzt er die Erinnerungen der Funktionseliten zueinander ins Verhältnis und vermißt im autobiographischen Zugriff die Bandbreite von Parallelen und Unterschieden.
Der Untersuchungsfokus seines Pionierwerks liegt auf der nationalsozialistischen und der kommunistischen Periode der deutschen Geschichte. Die Materialbasis ist ein Korpus von 69 Erinnerungsschriften, die 42 prominente Figuren des NS- und des SED-Regimes hinterlassen haben, wobei die Werke von Abtrünnigen ausgespart bleiben.
Und sein methodisches Werkzeug ist die analytische Durchdringung dieser selbst verfaßten Memoirenliteratur auf mehreren heuristisch aussagekräftigen Problemfeldern: auf der Ebene von Rechtfertigungsversuchen für das Scheitern des Systems; auf derjenigen der Exkulpationstechniken, mit denen die eigene Verantwortung bemäntelt wird; sowie auf der eines Vergleichs der retrospektiven Deutung, wobei sich der Blickwinkel der Fragestellung auf die Darstellung der eigenen Rolle im Regime sowie auf die konstante oder gebrochene Ideologietreue richtet.
Mehrere Lebensberichte werden analysiert
Zu den Persönlichkeiten, deren Lebensberichte analysiert werden, gehören unter anderem Reichsjugendführer Artur Axmann, Otto Dietrich, der Reichspressechef der NSDAP, der „alte Kämpfer“ Hans Frank, Hitlers Rechtsanwalt und späterer Generalgouverneur im besetzten Polen, der Reichsfilmintendant Fritz Hippler, der Gauleiter von Halle-Merseburg, Rudolf Jordan, Walter Schellenberg, der Leiter des Auslandsnachrichtendienstes im RSHA, Baldur von Schirach, der Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien, sowie Albert Speer, Joachim von Ribbentrop und Alfred Rosenberg, der Führerbeauftragte zur Überwachung der weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP und Reichsminister für die besetzten Ostgebiete.
Flankiert wird die NS-Prominenz von 21 SED-Granden, allen voran Erich Honecker, Egon Krenz, Hans Modrow und Markus Wolf. Diesen werden Wolfs Stellvertreter im MfS und Leiter der HVA, Werner Großmann, der Minister für Nationale Verteidigung, Heinz Keßler, der Wirtschaftsfunktionär Günter Mittag, der Leiter der KoKo, Alexander Schalck-Golodkowski, der 1. Sekretär der Bezirksleitung Berlin, Günter Schabowski, sowie die beiden Chefpropagandisten des DDR-Regimes, Kurt Hager und Karl-Eduard von Schnitzler, zur Seite gestellt.
Die Ideologie des Systems wird nur vereinzelt in Frage gestellt
Drei fundamentale Einsichten fördert die Studie zutage. Erstens eint die Verfasser das Bekenntnis zu einer gewaltbereiten, pseudoreligiösen Ideologie, die maßgeblich zum Sturz der Demokratie von Weimar beitrug.
Alle waren sie Verfechter eines diktatorischen Staatsmodells, das auffallende Übereinstimmungen aufweist: die Alleinherrschaft einer Partei, die straffe bürokratische Kontrolle und Lenkung der Ökonomie, die kollektive Gleichschaltung der Gesellschaft durch ein dichtes Netz von Massenorganisationen, ein umfassendes Propaganda- und Informationsmonopol sowie die rücksichtslose Bekämpfung und Bespitzelung aller Regimegegner durch einen staatlich organisierten Überwachungsapparat. Bezeichnend ist auch die tief verankerte Überzeugung, daß man als erkenntnisgeleitete Elite des Fortschritts, ohne Rücksicht auf staatliche Normen, Selbstbestimmung und Freiheit des Individuums, der unwissenden Masse den richtigen Weg zeigen müsse.
Zweitens ergibt sich der Befund, daß für alle Autoren der Untergang des Staates, dem sie dienten, das zentrale Motiv für die Abfassung ihrer Schriften war. Auch ihre Verarbeitungsstrategien sind weitgehend kongruent. Die Ideologie des Systems wird nur vereinzelt in Frage gestellt. Außer Schabowski, Schirach und dem Dresdner SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer ringt sich keiner der Autoren zur reflektierten Distanzierung durch und übt substantielle Systemkritik.
Es gab weit mehr „Entnazifizierung“
Während die NS-Autoren die menschenverachtenden Verbrechen des Regimes mit Unkenntnis camouflieren bzw. Hitler und den SS-Apparat dafür verantwortlich machen, blendet die SED-Riege die Mißstände und Schandtaten aus und hält fast geschlossen an ihrem Ideal einer marxistischen Wunderwelt fest, weshalb viele nahezu bruchlos in die bundesdeutschen Nachfolgeparteien der SED integriert werden konnten.
Begünstigt wurde dieser Umstand durch die Tatsache, daß die „Entstasifizierung“ weit weniger gründlich vorangetrieben wurde als die der „Entnazifizierung“. Lediglich zwölf von 21 Politbüromitgliedern mußten sich vor Gericht verantworten, wobei acht zu Haftstrafen verurteilt wurden. Im Ganzen gab es 30.000 Verfahren, in denen allerdings nur ein Prozent der Funktionäre zur Rechenschaft gezogen wurde.
Demgegenüber stehen 90.000 NS-Verfahren mit 6.500 Verurteilungen. Auch das erklärt, weshalb der DDR-Alltag noch heute zum Entsetzen der zahlreichen Opfer und Regimegegner in nostalgischer Manier verklärt werden kann.
„Widersprüchliche Apologeten“ verteidigen das System
Und drittens differenziert Danner zwischen vier „Verarbeitungstypen“. Neben den schon erwähnten „glaubwürdigen Renegaten“ läßt sich ein Drittel (sieben NS- und acht SED-Funktionäre) dem Typus des „reinen Apologeten“ zuordnen, wobei vor allem Honecker und Schnitzler sowie Axmann und Hippler ungebrochene Ideologietreue bewiesen.
Sechs „widersprüchliche Apologeten“ (wie Modrow, Krenz, Jordan, Rosenberg) verteidigen das System, üben jedoch auch vereinzelt Kritik. Der dritte Typus des „egoistischen, unaufrichtigen Selbstverteidigers“ distanziert sich zwar von den Greueltaten der Vergangenheit, strickt aber fleißig an der Legende der Selbstexkulpation, indem er sich auf Nicht-Wissen, Befehlshierarchien oder beste Absichten beruft (sieben NS- bzw. fünf SED-Funktionsträger, unter anderem Frank, Ribbentrop, Speer bzw. Mittag, Schalck-Golodkowski, Wolf).