Hat da jemand Angst vor der eigenen Courage bekommen? Mitte November ließ Deutschlands „Fernsehphilosoph Nummer Eins“ Richard David Precht verlauten, er habe sich geirrt. Entgegen seiner vorherigen Ansicht sei es richtig gewesen, die Ukraine mit Waffen zu beliefern: „Die Ukraine in eine Position der Stärke zu bringen, ist viel besser geglückt, als nahezu alle Beobachter, auch ich, zu hoffen gewagt haben“, gab er zu Protokoll. Viel genutzt hat es ihm erst einmal nicht. Stellvertretend für viele andere attestierte ihm der Kommentator der NZZ noch in der Revision seiner alten Position „arrogante Besserwisserei“.
Precht gehörte zusammen unter anderem mit Alice Schwarzer, Juli Zeh, Martin Walser und Harald Welzer Ende Juni zu den Mitunterzeichnern eines offenen Briefes an den Bundeskanzler, in dem eine Verhandlungslösung des Ukrainekrieges gefordert wurde. Als er Ende September zusammen mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer das Buch „Die vierte Gewalt: Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“ veröffentlichte, gerieten die beiden Autoren endgültig ins Visier der politisch-korrekten Moralisten.
„Putinversteher“ und „Verschwörungstheoretiker“ waren noch zwei der harmloseren Begriffe, mit denen sie bedacht wurden. Dabei haben sie kein Buch über den Ukrainekrieg geschrieben. Vielmehr beschäftigen sich Precht und Welzer mit den Mechanismen öffentlicher Meinungsbildung und analysieren diese anhand zahlreicher Beispiele, von denen die Berichterstattung über den Ukrainekrieg nur eines ist. Die heftigen Reaktionen zeigen, welch wunden Punkt die beiden getroffen haben.
Twitter bedroht die leitmediale Gatekeeper-Funktion
Die These des Buches lautet gerade nicht, so wie in einigen Besprechungen fälschlich behauptet, daß sich die Leitmedien in Deutschland zum Vollzugsorgan staatlicher Propaganda machen: „Aber sie sind die Vollzugsorgane ihrer eigenen Meinungsmache, mit (…) sich verstärkendem Hang zum Polarisierenden, Simplifizierenden, Moralisierenden, Autoritären und Diffamierenden.“ Einen Hauptgrund dieser Entwicklung sehen die Autoren in der Konkurrenz der „Direktmedien“ (Facebook, Twitter usw.), die den klassischen „Leitmedien“ entstanden ist.
Direktmedien sind ihrem Wesen nach inklusiver als Leitmedien. Auf Twitter kann (fast) jeder seine Meinung zu jedem beliebigen Thema kundtun, die leitmediale Gatekeeper-Funktion ist somit bedroht. Dies sei jedoch nicht, so der von den Autoren zitierte Hohepriester der „deliberativen Demokratie“ Jürgen Habermas, ein diskursiver Fortschritt, sondern brandgefährlich, da verantwortungsvolle Berichterstattung Qualitätsstandards benötige und somit in die Hände einer Elite gehöre.
Der leitmediale Journalismus sei mittlerweile getragen von diesem staatstragenden elitären Bewußtsein. Damit einher gehe ein Gefühl der Solidarität mit den politischen Eliten des Landes. Wir zusammen gegen die populistische Gefahr, gegen den Pöbel, der die Zusammenhänge nicht durchschaut und von ungefilterten Informationsflüssen nur verwirrt und vom rechten Pfad der wahren Gesinnung abgelenkt wird.
Viele Meinungsführer verachten das einfache Volk
Leitmedien und Spitzenpolitik, so Precht und Welzer in einer gelungenen Formulierung, sehen sich „auf gemeinsamer Flughöhe über die Niederungen eines sozialen Geschehens“ schweben. Die Konsequenzen sind so vorhersehbar wie desaströs für ein demokratisches Gemeinwesen. Das von der polit-medialen Elite in den „Niederungen“ verachtete Volk, dessen Interessen als moralisch verwerflich diffamiert werden, wendet sich seinerseits voller Verachtung ab, und es entsteht eine Gemengelage, die ein friedliches Zusammenleben unmöglich gestaltet.
Anhand der Flüchtlings- und Coronakrise sowie des Ukrainekrieges zeichnen die Autoren exemplarisch nach, wie das zuvor erläuterte Bewußtsein elitärer Solidarität zwischen Leitmedien und Politik „eine nahezu absolut homogene, gleichmäßig normative Bewertung“ hochkontroverser Themen bedingte. Precht und Welzer erinnern daran, daß es die ursprüngliche Aufgabe der Leitmedien war, den Machtlosen und Unterrepräsentierten eine Stimme zu geben und von der Elite verursachte Mißstände aufzudecken. Heute geben sich die Redaktionen in Hamburg, Berlin, Mainz und München immer weniger Mühe, ihre Verachtung für das einfache Volk zu verheimlichen.
Offensichtlich aus der Feder Harald Welzers stammen die Kapitel über das Phänomen des „Cursor-Journalismus“, welche die homogenisierte Berichterstattung der Leitmedien aus sozialpsychologischer Sicht zu erklären versuchen. Der Cursor zeigt an, welche Themen mit dazugehöriger Meinung als moralisch korrekt markiert werden. 2015/16 war das die grenzenlose Aufnahme kulturfremder Asylanten, 2020/21 harte Corona-Maßnahmen und jetzt eben die massive Aufrüstung der Ukraine.
Nonkonformismus ist nicht ihr Ding
Welzer legt dar, daß aus sozialpsychologischer Sicht oftmals die Wahrnehmung eines Geschehens der vorgegebenen Gruppenmeinung folge. Man sehe die Dinge also tatsächlich so, wie man sie zu sehen habe. Der Begriff „Lügenpresse“ greift dieser Analyse folgend zu kurz. Die medialen Apologeten der Massenmigration haben wirklich an deren Segen geglaubt, da sie die Dinge so wahrgenommen haben, wie es ihnen der moralische Cursor ihres Milieus angezeigt hat.
Den Autoren ist eine kurzweilig zu lesende Darstellung gelungen, die mit einer präzisen Thesenbildung überzeugt und diese mit zahlreichen Beispielen aus der jüngeren Vergangenheit verdeutlicht. Ganz neu ist der Ansatz des Buches jedoch nicht. Es argumentiert in eine ähnliche Richtung wie Walter Lippmann in seinem 1922 veröffentlichten Klassiker „Die öffentliche Meinung“ oder vor zwei Jahren der Medienwissenschaftler Uwe Krüger in seinem Buch „Mainstream: Warum wir den Medien nicht mehr trauen“.
Mit Precht und Welzer haben sich zwei Autoren exponiert, die bisher zu den Posterboys des leitmedialen Establishments gehörten und nie durch nonkonforme Äußerungen aufgefallen sind. Die heftigen Reaktionen dürften sie nicht überrascht haben, beschreiben sie doch genau jene in ihrem Buch. Der eine von ihnen ist in einer abweichenden Meinung bereits reuig eingeknickt, mal schauen, wieviel länger der andere noch standhält.