Während des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) veröffentlichte der Philosoph und Schriftsteller Thomas Abbt seine Betrachtungen „Vom Tod für das Vaterland“. Darin stellte er eingangs die Frage: „Sollte wohl die Stimme des Vaterlandes, die ehemals in den Versammlungen der Griechen und Römer ertönte, die in der Sterbenden Ohren schallte, und auf jedem Gesicht des Patrioten die lächelnde Miene in der Todesangst schuf: sollte diese Stimme ihre Schärfe unter uns verloren haben, oder sollten wir dieses feineren Gefühls ganz beraubt sein?“ Für Abbt war es neben der Liebe zum Vaterland vor allem das Bedürfnis und Vergnügen, ihm gedient zu haben, das den eigenen Tod rechtfertigte.
Heute, gut zweihundertfünfzig Jahre und zwei verheerende Weltkriege später, wirken solche Gedanken nur noch wundersam. In der „westlichen Wertegemeinschaft“ macht sich mittlerweile jeder verdächtig, der noch darauf beharrt, einem Volk anzugehören und einem Vaterland, Bildungsmächten, denen er viel verdankt, weil er ohne sie nicht der wäre, zu dem er geworden ist. Diese durften deshalb, sobald in Not und Gefahr geraten, mit der Bereitschaft kampffähiger Männer rechnen, für deren Existenz ihr Leben einzusetzen und unter Umständen zu sterben.
29 Prozent der Deutschen würden für ihr Land kämpfen
Seit den alten Griechen und Römern hieß es in diesem Sinne bis zum Ersten Weltkrieg, daß es würdig und ehrenvoll sei, mit dem Tod für das Vaterland – „pro patria mori“– das vornehmste Opfer für die jeden Einzelnen umfassende und ihn prägende geistige und politische Gemeinschaft zu bringen. Das Volk und die Einrichtungen, die es zu einer Willensgemeinschaft machen, veranschaulichten Dauer in der rasch verfliegenden Zeit, die darüber zur Geschichte, zur sinnvoll geordneten Zeit wurde. In dieser Welt als Geschichte empfing der Einzelne eine Vorstellung oder auch nur eine Ahnung vom Sinn seines flüchtigen, schnell vorübergehenden Daseins.
Mehr als fünfundsiebzig Jahre nach dem europäischen Weltbürgerkrieg ist eine solche Haltung obsolet. Nur drei von zehn Deutschen (29 Prozent) würden für ihr Land kämpfen, wenn es angegriffen würde. Das ergab eine aktuelle Umfrage des Markt- und Sozialforschungsinstituts-Insa im Auftrag der Evangelischen Nachrichtenagentur idea. Demnach gaben 35 Prozent an, daß sie nicht für Deutschland kämpfen würden. 24 Prozent antworteten mit „Weiß nicht“, zwölf Prozent machten keine Angabe.
Im Konflikt zwischen der Ukraine und Rußland hat „der Westen“, in dem „Europa“ vollständig untergegangen ist, eindeutig Partei genommen, obschon die Ukrainer von ihrer nationalen Selbständigkeit reden und sich damit in den Augen postnationaler Universalisten als rückständig erweisen, weil den Anschauungen der Welt von gestern noch verhaftet. Dennoch schwärmen auf einmal westliche Kosmopoliten, die nur Menschen kennen, von Mannesmut und Tapferkeit im Einsatz für ein bedrohtes Land, von der vorbildlichen Haltung, nicht zuerst an sich, sondern an das große Ganze zu denken.
USA und der Westen galten nie als Aggressor
Dabei kennt sich kaum einer von ihnen in der Geographie und Geschichte dieses fernen Staates aus, was die Aufgeregtheit gar nicht zu dämpfen vermag. Denn genaugenommen, geht es gar nicht um den konkreten Konflikt, sondern um eine moralische Forderung: Nie wieder Krieg! Krieg gehört geächtet, weil einer sich anmaßt, das ewige Gespräch partnerschaftlicher Problemlösung zu unterbrechen und sein Militär in die die Waagschale zu werfen.
Ein solch rohes Verhalten erschüttert die Verfechter einer universalen und gewaltfreien Diskursethik, die es für schändlich halten, Waffen, die produziert werden und als Handelswaren im Umlauf sind, zu ergreifen, um mit ihnen politischen Absichten Nachdruck zu verleihen, wenn alle anderen Mittel versagt haben, weil dem „Aggressor“ nie aufmerksam zugehört worden ist.
Bemerkenswerterweise galten bei den vielen Konflikten seit dem Koreakrieg nie der Westen und seine Führungsmacht, die USA, als Aggressor, selbst wenn sie es tatsächlich waren. Sie können als solche nie bloßgestellt werden, weil die „westliche Wertegemeinschaft“ bestimmt, was wertvoll und wertlos, was gut und recht, billig und angemessen ist. Deren ideologische Inquisitoren bilden ein heiliges Offizium, das streng über die öffentliche Moral wacht und jeden, der sie verletzt, kriminalisieren und entsprechend bestrafen darf. Wer nicht im Sinne westlicher Wertsetzer handelt, bestätigt seine Würde, ein Mensch zu sein, verspielt zu haben.
Tüchtige Gesinnungsakrobaten
Der vom Westen im Namen seiner höchsten Rechte und moralischen Grundsätze zum „Aggressor“ abgestempelte Feind wird jeweils im Handumdrehen zum Verbrecher, zum Tyrannen, zum Massenmörder, Unmenschen und „neuen Hitler“ stigmatisiert. Wie wollen die Diskursethiker je mit einem solchen Unhold zum Frieden kommen, wie können sie ein halbwegs friedliches Zusammenleben unter solchen Bedingungen ermöglichen?
Ein Rußland unter Putins Führung muß solchen tüchtigen Gesinnungsakrobaten selbstverständlich reaktionär erscheinen. Denn sie denken nicht vorwärts an die Zukunft, sondern zurück an ihr Reich vieler Völker und deren mögliche Stabilisierung. Sie verweigern sich der großen Weltgemeinschaft sämtlicher Humanisten, die darauf vertrauen, daß Handeln und Verhandeln die Einheit der Welt schaffen wird, in der jeder im anderen nicht den Fremden sieht, sondern sich selbst.
Denn Volk und Vaterland sind – wie Westeuropäer unentwegt betonen – Konstrukte nationalistischer Wirrköpfe aus glücklicherweise überwundenen Epochen. Wer sich dieser Sichtweise verweigert, bestätigt einen vollständig unzulänglichen Begriff vom Menschen zu haben. Der gute Mensch in der wehrhaften Wertegemeinschaft stürzt sich in feierliche Redensarten, um die großen Abstraktionen wie die Wertegemeinschaft mit ihrer Demokratie und Freiheit zu preisen. Es bedeutet höchstes Glück, für sie zu leben und deren Vorzüge mit anderen zu erleben. Für diese höchsten Werte will niemand sterben. Ihr blendender Zauber ergibt sich aus dem Zusammenleben in der innerweltlichen Heilsgemeinschaft, in der jeder den anderen ergänzt und alle aufeinander angewiesen sind.
Die Guten führen keine Kriege, dazu sind sie zu vernünftig
Handelsfreiheit, Produktionsfreiheit und Konsumfreiheit gelten als die höchsten Güter. Sie sind des Glückes Unterpfand. Handel und Wandel nötigt zu immer engerer Verständigung und Vergemeinschaftung, die einen Wohlstand gewähren, der keiner weiteren sittlichen Begründung bedarf. Wem soll es gut gehen, wenn nicht dem Guten? Und gut ist, wer im Wohlstand lebt. Die Guten führen keine Kriege, dazu sind sie viel zu vernünftig.
Das rein ökonomistische Denken im Westen legt es nahe, militärische Auseinandersetzungen zu vermeiden und auf ökonomische Zwänge zu vertrauen. Doch diese gleichen durchaus Kriegen. Es handelt sich um die Kriege der rechnenden und spekulierenden Schlaumeier, die Freiheit und Freiheiten nicht mehr mit Mut, Tapferkeit, Ritterlichkeit und weiteren soldatischen Tugenden verbinden, ja beim Wort Tugend im Zusammenhang mit Soldaten empört reagieren. Daran gebricht es dem Vaterland, das deshalb auf viele weniger verheißungsvoll wirkt als der betörende Flitter des westlichen Materialismus, die lockende ferne Welt.
JF 12/22