Niemand hat hellsichtiger und fröhlicher über das Dunkle und Undurchsichtige geschrieben als der englische Schriftsteller Gilbert K. Chesterton in seiner „Orthodoxie“: „Das mystische Moment ist es, was den Menschen im Laufe ihrer Geschichte die Gesundheit erhalten hat. Solange es das Mysterium gibt, bleiben die Menschen gesund; zerstört man es, liefert man sie dem Verfall aus.“
Eine kühne Behauptung zunächst, die er allerdings durch eine weitere Beobachtung an anderer Stelle untermauerte. Nämlich, daß die Irrenanstalten des Landes voller Patienten seien, die mit absolut tödlicher Logik beweisen könnten, daß sie Napoleon seien oder der verschollene Sohn des Bourbonenkönigs oder Christus, und daß sie nur durch eine Verkettung tatsächlich sehr unglücklicher und verworrener Umstände dort seien, wo sie sind. Die sich aber alle erklären ließen.
Meistens hat der Patient sogar Aufzeichnungen, minutiöse Protokolle oder Diagramme. Mir hat einer monatelang in die Redaktion derartige Zeichnungen und Minutenverläufe geschickt, die glasklar bewiesen, daß er in der Berliner U-Bahnstation Spichernstraße an einem bestimmten Tag, zu einer bestimmten Uhrzeit, von einem Geheimdienstagenten durch Strahlen am Kopf ausgeschaltet werden sollte. Seine Beweislage war wasserdicht. Und komplett irre.
Vielleicht hätte ich seine enggedrängten, vielfarbigen Kugelschreiberromane genauer studieren sollen, die zunehmend mehr an Apokryphen erinnerten, denn ohne Geheimnis kommt auch der kühnste Logiker irgendwann nicht aus, hätte Einfalls- und Ausfallswinkel nachrechnen und die chemischen Formeln überprüfen lassen sollen, denn eines Tages schrieb er mir nicht mehr. Aber er konnte mir ja auch nie erklären, warum er überhaupt ausgerechnet mir schrieb. Für den Verrückten gibt es kein Geheimnis, für ihn ist alles klar.
Alle Hochkulturen haben ihre Mysterienkulte
Ich hab nie einen irreren Menschen erlebt in einer Talkshow als jenen stets lächelnden Michael Schmidt-Salomon von der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung, mit dem ich einst über die Gottesfrage stritt. Metaphysische Problem schienen für ihn nicht zu existieren. Der Mensch: eine Biomaschine, die sich bis ins letzte zerlegen lasse. Seele sei eine Art Bauteil (ohne dieses klären zu können). Liebe eine Illusion, eine Geisteskrankheit. Wie dürftig, dachte ich mir, so ein Hundeleben.
Chesterton (1874–1936) dagegen: „Der einfache Mensch ist gesund, weil er ein Mystiker ist. Er gestattet sich, im Zwielicht zu leben. Seit jeher steht er mit einem Fuß auf der Erde und mit dem anderen im Feenland. Er hat sich stets die Freiheit genommen, an seinen Göttern zu zweifeln; anders als der heutige Agnostiker aber hat er sich auch stets die Freiheit vorbehalten, an sie zu glauben. Wahrheit war ihm immer wichtiger als logische Konsequenz. Stand er vor zwei Wahrheiten, die sich zu widersprechen schienen, so akzeptierte er beide und nahm den Widerspruch in Kauf. Seine spirituelle Sichtweise ist so stereoskopisch wie seine körperliche: er sieht zwei verschiedene Bilder gleichzeitig, was seiner Scharfsicht aber nur zum Vorteil gereicht.“
Alle Hochkulturen hatten ihre Mysterienkulte, weil sie den letzten Fragen Respekt entgegenbrachten: Wo geht es hin, nach unserem Ableben, woher kommen wir, wer sind wir? Plato wußte um Mysterienkulte, sein Höhlengleichnis ist Wahrheitssuche und Mysterium zugleich. Selbstverständlich gab es zuvor die Priesterkasten der Pharaone, ihre ausgefeilten Wahrsagereien und Seelenfahrtskunden, die gewaltigen Architekturen der Totenwelt, diese Pyramidenberge in der Wüste, die in der ockerfarbenen Fläche wie ein Aufbäumen der Geheimnisse sind gegen die Welt der Lebenden.
Natürlich haben auch wir Christen unsere Mysterien, die zum Teil der hellenistischen platonischen Tradition entsprungen sind. Nach der heiligen Wandlung in der Messe sprechen wir Katholiken ein uraltes Gebet, unser „Geheimnis des Glaubens“: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“
Hier ist das Geheimnis keine verhängte Wahrheit, die auf Enthüllung wartet, sondern eine Beschwörung: im Vollzug der Wandlung und der bekräftigenden Worte der Gemeinde werden wir Teil des Pascha-Mysteriums, in dem sich Gottes Sohn für uns opfert und seinen Leib und sein Blut in Speise und Trank verwandelt.
Und wenn wir jetzt in der Fastenzeit auf jenes Geheimnis der Auferstehung hinleben, sind wir eingesponnen und gebannt in dieser Zeit des Wartens. Rudolf Steiner nannte Ostern in einem Vortrag 1908 mit Recht das „Mysterium der Zukunft“. Doch es ist eines, das nicht ohne Eingedenken der sündigen Vergangenheit gefeiert werden kann.
Die Tage des Fastens gelten als Blütezeit der Reue
In der orthodoxen Liturgie gelten diese Tage des Fastens als „Blütezeit der Reue“, und das liturgische Buch, das „Triodion“, ist ein Hymnenbuch des Fastens, das auf ekstatisch getönte Geheimnisse zielt: „Öffne mir die Pforten der Reue, du, der du Leben schenkst“.
Das Triodion treibt die Reue geradezu in Verzückungsspitzen. Hier geht es nicht mehr nur um das formale Entsagen von Speisen – die Reue ist die Seele des Fastens, und zwar eine, die glänzt in ihrer Schönheit: „Der Frühling des Fastens ist gekommen, / die Blütezeit der Reue / Nehmen wir mit Freude die Ankündigung der Fastenzeit auf! Denn wenn unser Stammvater Adam das Fasten befolgt hätte, wären wir nicht des Paradieses verlustig gegangen …“
Es kann wohl keinen inbrünstigeren Beweggrund zum Fasten geben als diesen: die ganze Menschheit, die Welt wäre gerettet worden, hätte Adam der verbotenen Speise vom Baum entsagt. Deshalb müssen wir es nachholen, zu unserm Heil. Und wir wissen: wie arm und dürftig wäre unser Leben ohne Mysterien.
Die Orthodoxen jubeln in der Fastenzeit, der Blütezeit der Reue, weil sie auf jenen Goldglanz hinfasten, der schon auszumachen ist, der aus dem geöffneten Grabe in der Ferne fällt am Ostertag, aus dem Grab, dem der Christos soter, der Christ als Retter entsteigt, unter Jubel und Glanz.
Jedes Kind, das das Glück hat, in diese religiöse Schönheit hinein aufzuwachsen, wird bestätigen: Ein Leben ohne Mysterien ist langweilig und eigentlich kaum zu ertragen.
–––––––––––––––
Matthias Matussek arbeitete von 1987 bis 2013 beim Spiegel, danach für die Welt, heute für die Schweizer Weltwoche.
JF 14/18