Die Smartphone-Epidemie. Bereits der Titel des Werkes von Manfred Spitzer erinnert fatal an Thriller von Dan Brown oder Stephen King, was für ein Sachbuch eher unglücklich ist. Denn eigentlich ist Professor Spitzer als Leiter einer psychiatrischen Universitätsklinik und als lehrstuhlinhabender Wissenschaftler niemand, der durch Lautstärke noch Renommee gewinnen müßte. Zudem ist er intellektuell zweifellos befähigt zur Unterscheidung einer wissenschaftlich fundierten Abhandlung von eher oberflächlicher, aber populärer Kapitalismuskritik. Warum er trotz seines eigenen intellektuellen Anspruchs die Trennung der Stile nicht durchhält, erschließt sich dem Leser nicht.
Der Autor befaßt sich in der „Smartphone-Epidemie“ mit den Arten der Nutzung internetbasierter Kommunikationsmittel und ihren Auswirkungen auf Gesundheit, soziale Strukturen, Bildung, Lernen, Wirtschaft und „Big Data“. Dabei bemüht sich Spitzer um wissenschaftliche Belege aller seiner Schlußfolgerungen, weshalb sich das Buch an vielen Stellen liest wie ein gelungener Extrakt aus komplexen Studien, die für Laien der Regressionsanalyse verständlich aufbereitet werden. Inhaltlich überzeugen kann Spitzer dabei allerdings nur bei zwei der drei ihm besonders wichtigen Aspekte der aus der Erfindung des Smartphones resultierenden disruptiven Innovationen.
Nachgewiesene Veränderung des Sozialverhaltens
Smartphones, deren produzierte Zahl inzwischen die Einwohnerzahl des Planeten übersteigt, verursachen weltweit bei Kindern und Jugendlichen direkt Kurzsichtigkeit in einem Ausmaß, das als Pandemie, also als internationale Epidemie eingeordnet werden kann. Indirekt verbundene Krankheitsbilder mit einem hohen Korrelationskoeffizienten sind, insbesondere bei den besonders gefährdeten wie nutzungsaffinen Jugendlichen, vor allem Depressionen und Übergewicht. Diese Fakten sind nicht neu, aber selten so sauber herausgearbeitet worden wie in der „Smartphone-Epidemie“.
Bei der wahrgenommenen Veränderung des Sozialverhaltens vor allem junger Menschen stellt Spitzer vor allem auf die als Krankheitsbild international anerkannte Smartphone- und Onlinesucht ab. In Europa gelten bereits etwa dreißig Prozent der Altersgruppe unter 21 Jahren als smartphone- und onlinesüchtig. Die Betroffenen zeigen klassische Suchtstrukturen bis hin zum Entzug, wenn sie nicht im Abstand weniger Minuten mit ihrem Smartphone interagieren.
Daß Smartphones einen entsprechenden negativen Einfluß auf Konzentrationsfähigkeit und Lernmengen gerade bei Heranwachsenden haben, ist ebenso plausibel wie wissenschaftlich nachgewiesen. Doch bei Spitzers weitergehenden Rückschlüssen ist inhaltliche Kritik angebracht.
Sozialkritik statt Analyse
Auf Basis der dargelegten negativen Effekte der Smartphoneverbreitung wendet sich Spitzer gegen die zunehmende Digitalisierung aller Lehrinhalte und Unterrichtsformen. Als Beleg führt er Statistiken zu Ländern an, welche in digitale Lerninfrastruktur investierten und im Pisa-Ranking abfallen. Fraglich ist jedoch, inwieweit allein veränderte didaktische Methoden einen Unterrichtserfolg plan- oder meßbar beeinflussen. Spitzer verläßt also die Ebene eindeutiger Daten und Schlußfolgerungen.
Stattdessen verfällt er zunehmend in klug formulierte Sozialkritik zu verschiedenen Themen. Entsprechend prägt die gleiche skeptische Grundhaltung Spitzers Kritik an Geschäftsmodellen der Internetgiganten Google inklusive Youtube und Facebook. Tatsächlich verfügen diese Milliardenkonzerne über eine unglaubliche Wissens- und Datenbasis, die ihnen ihre Kunden freiwillig liefern. Dieses erfolgreiche Geschäftsmodell zu kritisieren, weil es Mißbrauchspotentiale bietet und dabei auch gleich noch die Profitorientierung der Unternehmen zu verteufeln, ist holzschnittartig pseudosozial, quasi salonlinks.
Zudem zeigt sich hier eine zweite Schwäche des Buches. Bereits im argumentativ stringenten, wissenschaftlichen Teil bleibt Spitzer Lösungsvorschläge schuldig. Er kritisiert Sachverhalte, die bereits Realität geworden sind, von der Smartphoneverteilung über Gesundheitsprobleme hin zur digitalen Transformation des Lernens und des werbefinanzierten Internetkapitalismus.
So bleibt die in den ersten Kapiteln gelungene Analyse disruptiver Nebenwirkungen radikaler Innovationen auf diesem Level stehen und erinnert fatal an gesellschaftliche, ideologisch-abstrakte Diskussionsbeiträge aus der Jugend des 1958 geborenen Autors. Es gab Zeiten, als Schallplatten der Rolling Stones oder Rambo-Filme auf VHS-Kassetten angeblich irreparable Schäden an Generationen von Jugendlichen wie dem jungen Manfred Spitzer hervorgerufen haben sollten.
Lösungsansätze abseits nutzloser Verbotsforderungen wurden schon damals nicht angeboten. Daß Spitzer hieraus keine Lehren gezogen hat und ebenfalls keine innovativen, realisierbaren Gedankengänge präsentiert, ist schade. Denn trotz des betont radikal gewählten Titels des Buches wäre bei diesem Thema deutlich mehr analytischer Input für die Gesellschaft allgemein und den Leser insbesondere möglich gewesen.
JF 52/18 – 1/19